KRITIK: Blankenberge – Everything

KRITIK: Blankenberge – Everything

Blankenberge beschallen mit ihrem dritten Album nicht nur die Weiten des Kaukasus.

Die durchaus vitale Musikszene Russlands lässt unzählige, frische Musiker:innen wie zum Beispiel Blankenberge aus dem Boden sprießen, wie sogenannte Pilzköpfe zu Zeiten der Manchester-Rave-Bewegung 1990. Zusammen mit Pinkshinyultrablast, Aerofall und Life On Venus bilden Blankenberge seit einigen Jahren die vorderste Linie Feedback getränkter Musik russischer Prägung. Kontinuierlich sorgten Pinkshinyultrablast seit ihrer Gründung 2009 dafür, den Weg für Shoegazer-Musik Made in Russia zu ebnen. Mit dem ersten Release Happy Songs Happy Songs For Happy Zombies und ihrem 2015 veröffentlichtem ersten Album Everything Else Matters rückten sie das mit 144 Millionen Einwohnern größte Land der Erde in den Fokus vieler Online-Blogs und Musikmagazine. Seit deren Abwandern zu deutlich von Disco und Elektro geprägter Musik 2018, stehen nun Blankenberge spätestens seit Veröffentlichung ihres zweiten Longplayers More in den Startlöchern, um bei der 4-mal-100-Meter Staffel den Staffelstab zu übernehmen.

Yana und Gitarrist Daniil Levshin besuchten auf ihrer Europareise 2015 das belgische Blankenberge und nach ihrer Rückkehr trugen sie wie andere Touristen Souvenirs, eben einen Bandnamen im Gepäck. Ein Umzug nach Sankt Petersburg vervollständigte das Team Blankenberge unter anderem mit langjährigen Freunden. Im gleichen Jahr in Barnau, Sibirien gegründet, veröffentlichte Sängerin Yana Gruselnikova zusammen mit ihren Mitmusikern alles in Eigenregie. Verständlicherweise sind alle Tonträger immer wieder ausverkauft und bei Erscheinen auch schon einmal nach 2 Minuten über Bandcamp nicht mehr verfügbar. Die Chancen stehen wahrscheinlich höher einen Sechser im Lotto zu tippen, als an einem Bandcamp Friday den Finger im richtigen Moment an den Drücker zu bekommen und sein Glück zu versuchen eine von gefühlt 136 Exemplaren abzugreifen, die eigentlich für die abgesagte Tour 2020 in Auftrag gegeben wurden.

2016 realisierte die bis 2019 zu fünft agierende Band eine Version des von The Cure geschriebenen Liedes Pictures Of You und mit einer gleichnamigen EP wurden erste musikalische Proben in die Tonträger umgesetzt. Beeinflusst von der russischen Kunst, dem Konstruktivismus, der in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts Hochkonjunktur feierte, zieht sich dieser anscheinend wie ein roter Faden durch die bisherige Artwork Gestaltung. Zeitweise trug genannte Strömung einen politischen Charakterzug und wurde im revolutionären Russland entwickelt, zu deren populärsten Vertretern Künstler wie Katarzna Kobro und Iwan Wassewilijewitsch Klijun zählen dürften. Die streng gegenstandslose Stilrichtung findet sich aktuell auch bei amerikanischen Bands von Career Suicide bis Spectres wieder, die immer häufiger Inspirationen in ihre Veröffentlichungen einfließen lassen.

Ihre Sturm-und-Drang-Phase haben sie mittlerweile durchlaufen und verfeinern kontinuierlich das eigene Soundgefüge. Aus der großen Kunst der Shoegazer-Zunft stechen sie alleine schon dadurch heraus, das nicht die millionste Version des Placebo-Effekts erhältlich ist, sondern wie der erste Longplayer 2017 eindrucksvoll bewies, immer wieder druckvolle, nach vorne gehende und Spielfreude versprühende Akzente gesetzt werden, die ordentlich Feedback getränkt agieren wollen.

Dazu passend gab es eine angemessen mit Hall belegte Produktion, die die Klangwelten wie aus dem entlegensten Kellergewölbe einer traditionsreichen Kathedrale emporsteigen lässt.

Zusätzlich lockerten Schlagzeug-Rhythmen mit dem Punch einer Math-Rock-Band immer wieder bei gelöster Handbremse verträumte Klänge auf und bilden das Gegenspiel zu den ausgeliehenen Post-Rock-Riffs, über denen Yanas Echo getriebene Gesangsharmonien daherfliegen. More setzte 2019 diesen Weg konsequent fort, schraubte den leicht verhallt, krachigen Aspekt etwas in den Weinkeller, ohne auch nur einen Hauch an klingelnden Höhen einzubüßen. Look Around fing diesen mitreißenden Mix der angesprochenen Elemente eindrucksvoll ein und in einer Corona bedingten Home-Session 2020 wurde dieser live neu interpretiert.

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Nachdem digitale Releases mittlerweile Monate vor der eigentlichen Veröffentlichung gesetzt werden, erscheint Everything nun offiziell in physischer Form.

Daian Aitiatov, einer der Gitarristen verließ leider 2019 den Blankenberg und aktuell übernimmt Sängerin Yana seinen Part, wie unschwer im schlicht dunkel gehaltenen Video zum Track Everything gut zu erkennen ist. Die Gitarrenschichten türmen sich weiterhin nach und nach auf, nur eben etwas dezenter wie bisher.

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No Sense kann schon nach wenigen Durchläufen unter dem Banner „Der Stoff aus dem Shoegazer-Träume sind“, firmieren, nachdem der Opener Time To Live die „rockigere“ Seite der Band sehr gut unterstrich. Different steigert weiterhin das Tempo, das Klangkarussell dreht sich in all seinen Farben und präsentiert die Musiker:innen auf der Höhe des Berges, wobei Bassist Dmitriy Marakov eine pumpende Bassline den Gitarrenteppichen entgegenstellt und so eine leichte Dissonanz entstehen lässt. Sergey Vorontsov zieht durch sein voluminös, spannendes Schlagzeugspiel Forget vortrefflich in die Länge, in der keine von 333 Sekunden zu viel gespielt ist. Die Einheit der des Bandkonstruktes trägt und hegt dich, umspült die Gehörgänge wie ein vertrautes Lieblingswort und klingt in einem Gitarrenakkord langsam aus. Everything und Summer Morning halten die konstruktive Kunst des innovativen Shoegazer weiter auf hohem Niveau, bevor So High mit versetzt tickendem Schlagwerk die Gitarren aus der Ferne hallend schwerelos werden lässt, um doch noch in einer Druckblase ausbrechen zu dürfen. Sie sagen ja zu wohl dosierten Feedbacks, nein zu seelenlosen Krachgeschichten, bevor Fragile alles andere als fragil und zerbrechlich dieses phantastische ausgelotete Album auf die Spitze treibt.

Wenn Corona endlich ordentlich abebbt dürfen sie endlich ihre Europa-Konzerte nachholen und wer weiß ob sich in ihrem Gepäck einige Exemplare von More befinden, die das Lotterie spielen überflüssig gestalten.

Einziger Wermutstropfen sei hiermit, dass durch den Ausstieg von Daian ein paar von diesen grandiosen Riffs verloren gegangen zu sein scheinen die so tönten, als ob die Rotorblätter eines Mi-24, des sogenannten Krokodils während des Hals-über-Kopf-Fluges auf den Bahngleisen schliffen.

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Von Veröffentlicht am: 22.02.2022Zuletzt bearbeitet: 22.02.2022948 WörterLesedauer 4,7 MinAnsichten: 781Kategorien: Alben, KritikenSchlagwörter: 0 Kommentare on KRITIK: Blankenberge – Everything
Von |Veröffentlicht am: 22.02.2022|Zuletzt bearbeitet: 22.02.2022|948 Wörter|Lesedauer 4,7 Min|Ansichten: 781|Kategorien: Alben, Kritiken|Schlagwörter: |0 Kommentare on KRITIK: Blankenberge – Everything|

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Über den Autor: Nico Pfueller

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