KRITIK: Broadcast – Mother Is The Milky Way/ Microtronics Vol. 1 & 2/ Maida Vale Sessions

KRITIK: Broadcast – Mother Is The Milky Way/ Microtronics Vol. 1 & 2/ Maida Vale Sessions

Broadcast, eine Band, die es da facto seit knapp 10 Jahren nicht mehr gibt, veröffentlicht nun mit einem Mal gleich drei neue Alben.

Erinnert sich hier noch jemand an Broadcast? Eine Band, deren Sound nach Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Einem klang? Deren Musik Chanson, Electronica, Jazz, Pop und Avantgarde auf eine solch selbstverständliche Weise miteinander verband, als hätte es an vergleichbaren Rolemodels nie gemangelt? Broadcast, das war Musik, der es gelang, die Klänge eines Flusses mit herkömmlichen musikalischen Mitteln zu intonieren. Man möchte fast sagen: Ein natürlicher Sound – insofern, als dass er nie bemüht, nie aufgesetzt klang. Erinnern Sie sich? Vermutlich nicht.

Die Geschichte von Broadcast begann in Birmingham, Mitte der 1990er Jahre. Trish Keenan, zu dem Zeitpunkt noch Sängerin des britischen Folk-Duos Wayward Winters, lernte damals den Musiker James Cargill kennen. Schon nach kurzer Zeit beschlossen sie, gemeinsame Sache zu machen. Gemeinsame Sache hieß in diesem Falle: Broadcast.

Nach einer Reihe von Singles und EPs veröffentlichten sie im Jahr 2000 schließlich ihr erstes Album The Noise Made By People, das durch seinen innovativen, detailverliebten Sound und die Unterstützung ihres Labels Warp Records bereits ein mittelgroßes Echo der internationalen Feuilletons hervorzurufen vermochte. Oftmals wurden Vergleiche zu Stereolab gezogen, die sich in jener Zeit auf dem Peak ihres künstlerischen und kommerziellen Erfolges bewegten.

Bis 2009 folgten drei weitere Alben, die den Ruf Broadcasts als eine der interessantesten Pop-Phänomene Großbritanniens untermauerten, bevor durch den plötzlichen Tod Trish Keenans im Jahr 2011 de facto der Band besiegelt war. Offiziell aufgelöst haben sich Broadcast zwar bis heute nicht, doch abgesehen von einem Filmsoundtrack im Jahr 2013, der zum Zeitpunkt von Keenans Ableben bereits fertig aufgenommen war, ist seitdem kein musikalisches Lebenszeichen der Band mehr zu vernehmen gewesen.

Was indes selbst treuen Wegbegleiter:innen der Band oftmals verborgen geblieben ist: Broadcast haben auch abseits der offiziellen Albumveröffentlichungen über die Jahre einen großen Fundus an musikalischen Ergüssen geschaffen, womit wir beim eigentlichen Anlass dieses Textes angelangen.

Denn Warp Records, das langjährige Label der Band, hat just drei Alben mit Aufnahmen aus den Jahren 1996-2009 veröffentlicht, die bisher nur einer kleinen, eingeschworenen Fanschar vorbehalten war.

Fangen wir chronologisch an: Das Doppelalbum Maida Vale Sessions vereint Aufnahmen, die die Band ab Oktober 1996 in insgesamt vier Aufnahmeeinheiten für die legendären BBC Peel Sessions der britischen Radio-Legende John Peel – ein großer Verehrer der Band – aufgenommen hat. Viele der hier versammelten Songs kennt man in modifizierter Form bereits von den offiziell veröffentlichten Alben, so etwa eine frühe Aufnahme des späteren Hits Come On, Let’s Go aus dem Jahr 1997 oder das schöne Echo’s Answer von besagtem Debüt-Album. Andere Songs wie das abschließende Sixty Forty mit der bis zur Hypnotisierung wiederholten Zeile „Will there be another time?“ kannte man bis dato nur von raren Compilations.

Im Kontrast zu diesen Alben erlebt man die Band auf Maida Vale Sessions deutlich entschlackter. Heißt: weniger Overdubs, weniger Effekte, dafür ein differenziertes Soundbild. Man erhält einen Eindruck davon, wie die Band möglicherweise auf der Bühne geklungen hat, wenn man denn die Möglichkeit gehabt hätte, die Band live zu erleben. Wie gesagt, hätte…

Das Album Microtronics 1 & 2 vereint zwei bis dato rare EPs, die die Band in den Jahren 2003 und 2005 in kleiner Stückzahl veröffentlicht hat. Die komplett instrumental gehaltenen Songs (oder besser gesagt: Skizzen) dokumentieren das stark ausgeprägte Faible der Band für experimentelle, noisige Klänge, das angesichts der oft sehr poppigen Songs auf den regulären Alben manchmal in Vergessenheit geraten zu drohte.

Die Songs stellen kurze, flüchtige musikalische Umrisse dar – kaum einer der insgesamt 21 Songs überschreitet die 2-Minuten-Grenze. Mehr noch als auf den regulären Alben offenbart sich auf Microtonics 1 & 2 die Nähe zum Jazz und zu vertrackter Rhythmik. Eine Reihe der hier versammelten Tracks könnte man sich auch gut als musikalische Untermalung in einem Agenten-Thriller vorstellen.

Das Album Mother Is The Milky Way schließlich ist eine Wiederveröffentlichung aus dem Jahr 2009. Damals wurde das Album einer kleinen Stückzahl von 3000 Exemplaren (was heute in Zeiten digitaler Distributionswege freilich keine so kleine Stückzahl mehr ist) veröffentlicht und ausschließlich auf Tour als eine Art Present an die treue Fanschar veröffentlicht.

Auf dem Album zeigen sich Broadcast auf dem Höhepunkt ihres musikalischen Schaffens und es ist eigentlich kaum zu glauben, dass die Band das Album nicht von Anfang an als „offizielles“ Album veröffentlichen wollten. Die Stücke sind eingängig und verspielt, eklektizistisch und kompakt. Mehr noch als auf den offiziellen Alben kommt dabei das ausgeprägte Faible von James Cargill für die Integration von Samples zum Vorschein, die er nach eigener Auskunft zumeist alten Tapes entlieh, die er auf Flohmärkten erstanden hatte. Das Ergebnis ist eine Art hauntologische Klangkunst – ein Sound, der aus Versatzstücken der Vergangenheit in die Zukunft weist.

Führt man sich diese drei Alben von Broadcast vor Augen und Ohren, so erahnt man, dass der Tod von Trish Keenan jenseits des menschlichen Verlustes auch ein enormer Verlust für die internationale Popmusik bedeutet hat. Umso wertvoller sind die Hinterlassenschaften, die nun dank Warp Records das Licht der großen Öffentlichkeit erblicken durften.

Und wer weiß, was in Zukunft noch von Broadcast zu erwarten sein wird – einer Band, die es eben eigentlich gar nicht mehr gibt.

Alle drei Alben gibt es hier, hier und hier zu kaufen.

Schreibfehler gefunden?

Sag uns Bescheid, indem Du den Fehler markierst und Strg + Enter drückst.

Von Veröffentlicht am: 16.03.2022Zuletzt bearbeitet: 16.03.2022917 WörterLesedauer 4,7 MinAnsichten: 493Kategorien: Alben, KritikenSchlagwörter: 0 Kommentare on KRITIK: Broadcast – Mother Is The Milky Way/ Microtronics Vol. 1 & 2/ Maida Vale Sessions
Von |Veröffentlicht am: 16.03.2022|Zuletzt bearbeitet: 16.03.2022|917 Wörter|Lesedauer 4,7 Min|Ansichten: 493|Kategorien: Alben, Kritiken|Schlagwörter: |0 Kommentare on KRITIK: Broadcast – Mother Is The Milky Way/ Microtronics Vol. 1 & 2/ Maida Vale Sessions|

Teile diesen Beitrag!

Über den Autor: Luca Glenzer

Musiker und Soziologe.

Wenn dein Album, Song oder Video als Premiere auf prettyinnoise.de veröffentlicht werden soll kannst du hier mehr erfahren:

Premiere auf Pretty in Noise

Wenn du einen Gastbeitrag auf prettyinnoise.de veröffentlichen möchtest kannst du hier mehr erfahren:

Gastbeitrag auf Pretty in Noise

Hinterlasse einen Kommentar

NO)))ISELETTER

Abonniere jetzt kostenlos unseren NO)))ISELETTER. Wir informieren dich dort über neue Vinyl-Veröffentlichungen, Interviews, Verlosungen, Konzerte und Festivals.

NO)))ISECAST

NO)))ISECAST ist der Podcast von Pretty in Noise. Wechselnde Autor:innen unterhalten sich – mal mit und mal ohne Gäste – über Musik die sie berührt – die euch berührt.

#VinylGalore

Wenn ihr Infos zu neuem Vinyl und Deals via WhatsApp, Signal oder Telegram bekommen möchtet, geht es hier entlang: ↓↓↓

Vinnyl immer