KRITIK: Henning Dedekind – Krautrock – Gegenkultur, LSD und kosmische Klänge

KRITIK: Henning Dedekind – Krautrock – Gegenkultur, LSD und kosmische Klänge

Deutschland, 1960er Jahre: Die Kriegstrümmer sind längst beseitigt, die Bäuche wieder wohlernährt und die Nazi-Diktatur unter „einmaliger Ausrutscher“ verbucht und – vorerst – erfolgreich verdrängt. Den passenden Soundtrack jener Jahre liefern gefeierte Schlagerstars wie Freddy Quinn, Peter Kraus und Wolfgang Sauer, die Deutschlands internationalen Status als popkulturelles Entwicklungsland in eindrucksvoller Weise untermauern. Jede Zeit bringt eben die Popkultur hervor, die sie verdient.

Ab Ende der 60er Jahre aber wendet sich langsam das Blatt: Inspiriert von den kosmischen Klängen einer aufbegehrenden Jugend aus Übersee, beginnen junge Künstler:innen in Deutschland, das heimelige Wohlfühlkorsett aus Tonika, Subdominante und Dominante in Frage zu stellen und zunehmend zu sprengen. Wilde, ungerichtete Soundexperimente sind plötzlich en vogue und neben dem VW Käfer wird fortan der Krautrock zum deutschen Exportschlager.

Die hiesige Öffentlichkeit und ihre konservativen Kultureliten indes müssen nun in schmerzlicher Weise erstens lernen, dass Untergrund nicht nur RAF, sondern fortan auch Can ist, und dass zweitens beides auch nicht wahllos in einen Topf geworfen werden kann. Denn zwischen anarchistischen Klangwänden und einem herumgehenden Joint auf der einen und einer entsicherten Kalaschnikow auf der anderen Seite besteht aller Einsprüche zum Trotz ein Unterschied ums Ganze.

Henning Dedekind hat über diese turbulente Zeit im Jahr 2008 ein vielgelobtes Buch unter dem Titel Krautrock – Gegenkultur, LSD und kosmische Klänge geschrieben. Seit vielen Jahren vergriffen, ist es nun im Leipziger Zweitausendeins-Verlag wiederveröffentlicht wurden.

Dedekind bettet darin die subkulturellen Entwicklungen jener Zeit in ihren zeithistorischen Kontext ein, da sie überhaupt erst dadurch verstehbar werden. Der Fokus des Buches liegt dabei also nicht auf seitenlangen und übers-Bein-gebrochenen Soundumschreibungen oder einer enzyklopädischen Katalogisierungswut, sondern auf einer kulturgeschichtlichen Herleitung, die Mut zur Auslassung beweist. Gerade dadurch aber wird der spezifische historische Kontext versteh- und fühlbar, innerhalb dessen – so Dedekind – „Musik, politische Einstellung und das Lebensgefühl einer ganzen Generation miteinander verschmolzen“.

Dabei erweist sich Dedekind als detailversessener Kenner jener Zeit. Prägnant zeichnet er das im Rückblick erstaunlich kurze Zeitfenster zwischen Ende der 1960er und Mitte der 1970er Jahre nach, das heute als das „goldene Zeitalter“ des Krautrock gilt und auch – oder besser: gerade – international bis in die Gegenwart nerdiges Detailwissen und manische Sammlerkultur hervorzurufen vermag. Zugleich wird durch die Lektüre des Buches klar, dass der Krautrock-Begriff von Anfang an viel zu kurz griff, um das zu begrifflich adäquat zu fassen, was er fassen wollte.

Denn so unterschiedliche Acts wie Can, Faust, Guru Guru, Amon Düül, Kraan, Kraftwerk oder Tangerine Dream einte von Anfang an einzig und allein die Haltung, dass man sich mit einem nostalgisch-wehmütigen, schlageresk-eingefärbten Blick in eine vermeintlich idyllische und widerspruchslose Vergangenheit oder einer stupiden 1:1-Kopie angelsächsischer Vorbilder nicht mehr länger zufriedengeben wollte. Dass dabei gerade jenes Land, das nicht zuletzt durch die Grauen des 3. Reiches wie kein anderes zum Inbegriff bürokratischer, entmenschlichender Organisation geworden war, schließlich zum Geburtsort einer derart offenen, fließenden, unvorgefertigten und dadurch genuin menschlichen Musik wurde, kann ohne Untertreibung als kleines Wunder der modernen Zivilisation gelten.

Gerade diese gemeinsame, individualistische Haltung aber bildete die Grundlage dafür, dass sich die Entwicklungsstränge der unter den Krautrock-Begriff subsumierten Bands innerhalb kurzer Zeit rasch pluralisierten: Tangerine Dream wurden zu Pionieren des Ambiente; Can stellten durch ihre klassisch geschulte Avantgarde-Musik eindrucksvoll die Willkür der Unterteilung in E- und U-Musik unter Beweis; Guru Guru frönten dem Space-Rock; und Kraftwerk legten ab Mitte der 1970er Jahre mit Alben wie Autobahn oder Die Mensch-Maschine den Grundstein für die zeitgenössische elektronische Musik.

Zugleich offenbart Dedekind mit Verweisen auf zeitgenössische Bands wie Franz Ferdinand, Coldplay oder Secret Machines, dass der Krautrock sich auf vielfältige Weise seinen Weg in den popkulturellen Kanon des 21. Jahrhunderts gebahnt hat. Er begnügt sich also nicht alleine mit einer historischen Abhandlung, sondern zeigt zugleich die mannigfaltigen Verschränkungen von Vergangenheit und Gegenwart und damit auch die popkulturelle Bedeutung des Krautrock für die Gegenwart auf.

Dabei ist es Henning Dedekind gelungen, aus einer schier endlosen Materialsammlung inklusive durchforsteter Archive und selbstgeführter Interviews mit zahlreichen Protagonist:innen jener Zeit ein faktenreiches, zugleich aber sehr kompaktes und kurzweiliges Buch zu schreiben, dessen Lektüre hiermit ausdrücklich empfohlen wird.

(Transparenzhinweis: Der Autor dieses Textes ist zur Zeit auf geringfügiger Basis beim Zweitausendeins-Verlag – der das Buch wiederveröffentlicht hat – beschäftigt.)

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Von Veröffentlicht am: 13.01.2022Zuletzt bearbeitet: 13.01.2022726 WörterLesedauer 3,6 MinAnsichten: 891Kategorien: Buch, Kritiken0 Kommentare on KRITIK: Henning Dedekind – Krautrock – Gegenkultur, LSD und kosmische Klänge
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Über den Autor: Luca Glenzer

Musiker und Soziologe.

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