BERICHT: ArcTanGent Festival 2016

BERICHT: ArcTanGent Festival 2016

ArcTanGent 2016 – ArcTan… Was? Der Arkustangens ist eine zyklometrische Umkehrfunktion eingeschränkter Tangens- und Kotangensfunktionen aus der Familie der Arkusfunktionen. Tangiert dich eher peripher? Ja, mich bisher auch. Doch nun verläuft ein Arkustangens quer durch mein emotionales Koordinatensystem. Irgendetwas zwischen einem Geständnis und einer Liebeserklärung.


ArcTanGent 2016 – Ein paar Büschel Schafwolle hängen noch im Zaun. Ihre Urheber wurden vermutlich längst in Sicherheit gebracht, auf die andere Seite des sattgrünen, hügeligen Tals. Ihrer statt drängen sich nun Menschen auf den Weiden der Fernhill Farm nahe Bristol. Menschen, deren grellbunte T-Shirts vorzugsweise Comicfiguren des letzten Jahrtausends oder mindestens zehnsilbige Bandnamen zeigen. Menschen, die Tapes und Sampler vorbereitet haben für den Fall, dass sie doch noch irgendwann einmal gefragt werden sollten, „was sie so hören“. Menschen, die zu ihrer Unterhaltung lieber rapide wechselnde rhythmische Metren zählen als Schafe.

„This is our place. The place for strangers, weirdos, nerds. And this is our time.“ And So I Watch You From Afar sind nicht unbedingt dafür bekannt, große Reden zu schwingen. Hier auf dem ArcTanGent, auf dem sie sich zu Hause fühlen wie sonst nirgends, tun sie es. Und geben in wenigen Worten exakt wieder, was jeder hier fühlt. Zum vierten Mal findet das ArcTanGent statt und lässt die Herzen jener höher schlagen, deren bevorzugte Genres klingen wie wissenschaftliche Disziplinen: Post-Rock, Math-Rock, Noise-Rock, et cetera, et cetera. Drei Tage, vier Bühnen und 70 Bands, von denen keine einzige auch nur im Entferntesten zu entbehren wäre. Wie soll man das nur überleben? Wann soll man essen, wann schlafen…?

Dehydrieren tut hier niemand, obwohl es für die 5000 Festivalbesucher nur eine einzige Wasserstelle und keine Duschen gibt (weltliche Bedürfnisse, pah!): es regnet. Es stürmt. Ohne Pause, außer natürlich zum Five O’Clock Tea. Stören tut das niemanden. Für die wenigen nicht-britischen Festivalbesucher, die diese Lappalien nicht gewöhnt sind und mit stoischer Gelassenheit ausharren, gibt es schließlich die vier großen, bunten Zelte, die die Bühnen überspannen und immer wieder ein wärmendes „Cheers, Mate!“

Den Überblick zu behalten über dieses akustische Paradies ist alles andere als leicht: der käuflich erwerbbare Timetable ist leider weder sonderlich Benutzer freundlich noch informativ. Jedoch äußerst hilfreich: Der „’For Fans Of‘-Guide“, in dem jede einzelne Band drei ihrer Referenzbands nennt. Auf ins Getümmel! Sämtliche gute Auftritte dieses Festivals zu beschreiben würde selbst die Geduld jener Leser_in überstrapazieren, die mir bis hierher gefolgt ist. Deshalb seien im Folgenden nur meine zwei Glanzpunkte eines jeden Tages genannt:

TTNG, immer noch eher bekannt unter ihrem alten Namen This Town Needs Guns, vermögen es mit ihrem verträumt-schwermütigen Frickel-Indie die große Yohkai Stage in ein kleines, zerbrechliches Domizil für Träume, Sorgen und Wünsche zu verwandeln. Klingt kitschig, ist es wahrscheinlich auch. Aber wenn anspruchsvolle, komplexe Rockmusik zur Abwechslung einmal leichtfüßig dahinfließt, anstatt sich in dramatische Virtuosen-Pose zu werfen, ist da zugleich mutig und verdammt notwendig. Die Lokalmatadoren Axes interpretieren den Math-Rock als Spielplatz der unbegrenzten Möglichkeiten und machen Lust auf Wasserrutschen, Wettrennen und Highspeed Sackhüpfen. Ihre Songs sprudeln nur so vor euphorischen Licks und rasanten Tempowechseln und locken früher oder später jeden aus seinem Regenversteck.

Schon um die Mittagszeit versetzen die niederländischen Noiser MNHM (Mannheim) den übers Gelände fegenden Sturm mit gespenstischem Saxofonhall und wuchtigem Bass. So übel gelaunt wurde Jazz noch nirgends gesichtet. HECK aus Nottingham halten nicht viel von Bühnen. Sie verlagern ihre artistische Show prompt ins Publikum und verpassen mit ihrem brachialen Noise-core so mancher blutigen Nase ein seeliges Grinsen.

Lang herbei gesehnt übertrifft auch das Konzert von Raketkanon alle Erwartungen. Frontmann Pieter-Paul Devos zerhäckselt seine Stimme genüsslich in ein verzerrtes Greinen, das selbst die bleiernen Sludge-Riffings überstrahlt. Steve Brodskys (Cave-In) neuestes Projekt mit Converge Drummer Ben Koller und Bassist Nicholas Cageao, Mutoid Man, sticht auf dem ArcTanGent durch seine konventionellen Songstrukturen heraus. Allerdings in bester Weise: Prog-Metal Gitarren, Hard Rock Refrains und souliger Gesang setzen innerhalb kürzester Zeit das Zelt in Brand.

Es ließe sich ewig so weiterschwärmen, schließlich haben noch nicht einmal Godspeed You! Black Emperor, Caspian oder Mono Erwähnung gefunden. Bleibt eigentlich nur zu sagen: Wenn auch du deine vergangenen Lebensjahre nicht in Sonnenumrundungen, sondern in Band-Phasen unterteilst (damals, als ich ihm meinen Neurosis-Pulli geliehen habe und ihn niemals zurück bekam!), dann solltest du sie nächsten Sommer aufsuchen, die Schafkoppeln der Fernhill Farm, um dir ein Shirt zu kaufen, auf dem steht: I only came here for the Mars Volta Channel. Den gibt es hier während der Silent Disko. Rund um die Uhr. Noch Fragen?

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Über den Autor: Sabrina Blaess

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