Das war 2022 – Rückblick der Autor:innen: Marc Wilde
2022 war ein kack Jahr liest man oft. Das gilt unzweifelhaft für die Krisen in vielen Teilen der Welt, die uns immer näher kommen. In musikalischer Hinsicht ziehe ich ein positives Fazit.
Endlich wieder Konzerte, entgegen den Trend habe ich viele besucht, einige auch selbst organisiert. Und auch bei der Jahresbestenliste fällt es mir nicht schwer, 50 starke Songs zusammenzustellen. Vor allem, nachdem ich die Listen der Kolleg*innen fleißig durchgeackert und noch die ein oder andere Perle entdeckt habe, die mir sonst durch die Lappen gegangen wäre.
1. Alex Miksch – König der Kröten
Für die Lynch-Serie Twin Peaks hat der Ende des Jahres verstorbene Komponist Angelo Badalamenti einen Soundtrack für die Ewigkeit geschaffen. Im König der Kröten lebt die Titelmelodie auf wundersame Weise weiter. Eingewoben in märchenhaften österreichischen Lyrics, eindringlich von Alex Miksch aus tiefster Kehle herausgepresst, begleitet von einem Streich- und Zupforchester, das knisternde Spannung erzeugt. Ein Lied, das einen packt und nicht mehr loslässt. Nie wieder war es schöner, sich in einen tiefen Brunnen fallen zu lassen.
2. Thus Owls – I Forget What I Remembered
3. Silverbacks – A Job Worth Something
4. Spoon – Wild
5. Die Arbeit – Probleme
6. Die Sauna – In die Nacht Hinein II
Mit den Zeilen „Im Traum stehen wir uns nah, gehen in die Nacht hinein“ startet Matthias Berg in den zweiten Teil des Titeltracks und umarmt die Dunkelheit. Eine Schlüsselstelle des zweiten Albums der sechs Freunde vom Schliersee, welches die kühle Ästhetik der Achtziger mit einem Sinn für Melodien verbindet, die man sonst nur von der Münchener Freiheit kennt. Textlich kreist die Platte um wiederkehrende Motive, die auch bei In die Nacht Hinein II zahlreich versammelt sind: die Nacht, der Traum, Verlust und Angst. Das klingt tieftraurig, ist es aber nicht. Vor allem dann nicht, wenn dann doch die Hände ineinander greifen: „Und dann verblasst die Traurigkeit / Die Sehnsucht tötet Einsamkeit / Und dann verschwindet Müdigkeit“.
7. Die Nerven – Europa
8. Mitski – Stay Soft
9. Arctic Monkeys – Body Paint
10. Anna B Savage – The Ghost
11. Grace Cummings – Raglan
Mit Raglan führt uns Grace Cummings nicht nur auf eine gleichnamige Straße in ihrer Heimatstadt Melbourne, sondern auch zu einem ihrer zentralen musikalischen Einflüsse: irischer Folk. Das Stück verweist auf ein Gedicht von Patrick Kavanagh, das The Dubliners im gleichnamigen Song Raglan Road musikalisch umgesetzt haben. Cummings irische Wurzeln sind auf Storm Queen, dem zweiten, von ihr selbst produzierten Album, nicht zu überhören. Im Zentrum der reduzierten Songs steht ihre voluminöse Stimme. Auch Raglan ist ein sehr zurückgenommener, atmosphärisch dichter Song, in dem nicht allzu viel zu passieren scheint – außer, dass sich eine Platte dreht: Highway 61. Noch so eine Referenz. Spätestens aber, wenn nach über zwei Minuten das Schlagzeug einsetzt, die Fiddle sich zum Banjo gesellt und Cummings Gesang an Kraft gewinnt, ist es um einen geschehen.
12. Andrew Bird – Make A Picture
13. Nilüfer Yanya – midnight sun
14. Wet Leg – Angelica
15. Yeah, Yeah, Yeahs / Perfume Genius – Spitting Off the Edge of the World
16. Subterfuge – The Snake Wife
Wieviel Zumutungen passen in ein Jahr? Man möchte das mit Blick auf das allgemeine Weltgeschehen nicht noch einmal alles aufzählen, weiß eh jeder in welche Richtung man zuvorderst blicken muss. Auch die erlebte Konzertkrise ist im Musikjahr 2022 genügend durchdekliniert worden. Umso dankbarer darf man für die Lichtblicke aus den musikalischen Nischen sein, die einfach nur hell strahlen. So wie The Snake Wife. Der Janglepop von Subterfuge macht vor allem eins: gute Laune. Und das könnte man jetzt frei von Täuschung einfach mal so stehen lassen, wenn die letzte Liedziele nicht wieder eine dieser nagenden Fragen aufwerfen würde: What‘s „the price you pay for those bright lights?“
17. Porridge Radio – Back to the Radio
18. Courting – Tennis
19. Cowboyy – Gmaps
20. Black Country, New Road – Concorde
Ein Schlagzeug schleppt sich im krummen Takt dahin, über die brüchige Stimme von Isaac Wood legt sich eine Piano-Melodie, zusammen mit dem Saxofon bildet sich das zentrale Motiv heraus. Über sechs Minuten lang werden wir bei Concorde in ein Wechselbad der Gefühle getaucht. Mit klassischer Instrumentierung und einem ausgeprägten Sinn für Dynamik: zunächst zart und leise, bis der Gesang anschwillt und sich die aufgestaute Energie der siebenköpfigen Band mit Wucht entlädt. Flugzeuge könnten damit in Überschallgeschwindigkeit fliegen. Leider hat sich kurz vor dem Veröffentlichungstermin mit Woods Ankündigung, die Band aus gesundheitlichen Gründen zu verlassen, ein langer Schatten über das zweite Album von Black Country, New Road gelegt. Die Hintergründe zu seinem Rückzug geben Anlass, sich über das Thema „Depression“ Gedanken zu machen, das 2022 mehr als sonst in der Kulturbranche Beachtung gefunden hat. Über den schmalen Grat von öffentlichem Bekenntnis zu medialer Vermarktung hat Fabian Soenthof mit Blick auf den Fall von Sido einen treffenden Kommentar geschrieben.
Für Isaac Wood war der Schritt aus dem Rampenlicht unausweichlich; dass er den Weg zurück zu Black Country, New Road oder zum kreativen Schaffen überhaupt findet, können wir uns nur wünschen.
21. Jane Weaver – Oblique Fantasy
22. Ibibio Sound Machine – Protection From Evil
23. Jockstrap – Concrete Over the Water
24. King Hannah – All Being Fine
25. Thirsty Eyes – Alaska
Die auch in diesem Jahr stark auftretende Österreichfraktion hat mit dem König der Kröten auf Platz 1 den Start gemacht. Mehr als an der Zeit also, die Brücke zu weiteren Highlights aus dem geschätzten Nachbarland zu schlagen. Das gelingt mit Philipp Moosbrugger leicht. Denn der hat nicht nur das aktuelle Album von Alex Miksch produziert, sondern ist zugleich einer der kreativen Köpfe von Thirsty Eyes, der umtriebigen Underground-Kombo aus Wien, die in diesem Jahr endlich ihre erste LP (A Certain Regard) veröffentlicht hat. Nach wiederholter Ankündigung und zweimaliger Auflösung der Band – aus „promo-technischen Gründen für Konzerte“, wie Sänger Samuel Ebner im Interview verrät. Das auf Haldern Pop Records erschienene Debütalbum versammelt schräge Songs aus der inzwischen über siebenjährigen Bandgeschichte von Thirsty Eyes, die mit ihrem diabolischen Genremix zwischen Surfrock und Postpunk schwer einzuordnen sind. In Alaska befinden sich die tragenden Elemente, Ebners präsente, tiefe Stimme und Moosbruggers kreischenden Lap-Steel-Gitarren, im dynamischen Wechsel. Bevor sie, vom Schlagzeug angetrieben, im furiosen Finale explodieren.
26. Voodoo Jürgens – Twist
27. Der Nino Aus Wien – Was passiert ist
28. Acht Eimer Hühnerherzen – Futur 25
29. Pogendroblem – Wie betäubst du dich
30. Hildegard von Binge Drinking – Amon Tool II
Mit lustigen Bandnamen bewegt man sich auf dünnem Eis. Erst fand man sie noch gut, irgendwann nur noch peinlich. (Also so ähnlich wie Kinder im Laufe des Heranwachsens auf ihre Eltern blicken.) Bei Hildegard von Binge Drinking ist der Name aber natürlich über jeden humorkritischen Zweifel erhaben. Auch der Nonnenlook des (Fun-?)Punk-Duos aus Würzburg erfreut das Auge. Musikalisch wird der kraftwerkartige Electrosound mit einer starken Prise Krautrock gewürzt. Tatsächlich eher im Stile der Band Amon Düül II, von der es heißt, dass sie im Unterschied zur Urformation „auf ein Mindestmaß Musikalität“ Wert legten. Ganz wie bei Tool. In Amon Tool II pushen sich das tighte Schlagzeug und der heisere Schreigesang von Daniel Gehret gegenseitig hoch. Man gerät unweigerlich in Ekstase. Und, wer Kinder hat, dem zaubern sie noch dazu ein wissendes Lächeln ins Gesicht: „Das ist der Ort an dem sich junge Eltern an das Leben erinnern bevor sie Eltern wurden. Und in dieser Küche wird der Freund der Tochter zum Teil der Familie.“ Man kann mit wenigen Mitteln viel transportieren.
31. Deichkind – In der Natur
32. Ebow – Araba
33. ROSALÍA – SAOKO
34. Die Sterne – Hallo Euphoria
35. Fehlfarben – Europa
Das europäische Parlament hat in diesem Jahr keine durchgehend gute Figur abgegeben, in jedem Fall nicht in der Führungsspitze. Dafür ist Europa durch die identisch betitelten Stücke von Die Nerven und Fehlfarben gleich zweimal in dieser Liste vertreten. Dass die Fehlfarben ihre ruhmreiche Vergangenheit nicht einfach nur verwalten und mit ?0?? auch nach über 40-jähriger Bandexistenz noch ein relevantes Album abliefern würde, damit war 2022 nicht zu rechnen. Alles andere als schwerfällig legt die erste Single Europa direkt los: mit einer groovigen Schlagzeug-Bass-Kombination und funkigen Gitarrenriffs, so scharf wie die Richtlinien einer Ethikkommission, die dem Europäischen Parlament gut zu Gesicht stünden. Dazu Heins nervöser Gesang, der dem Stier schonungslos an die Eier packt. Und textlich? Während bei Die Nerven der nun endgültig in Europa angekommene Krieg die Illusion von Sicherheit zerstört, bleibt auch bei den Fehlfarben von der europäischen Idee nicht mehr allzu viel übrig. Vor allem aber mit den „Resten der BRD“ geht Peter Hein – angepisst wie eh und je – hart ins Gericht. Wortspielerisch schließt er seinen Abgesang mit „E U R Opa“. Dass ihm auch vieles anderes am so genannten Zeitgeist „auf den Sack geht“, zeugt davon, dass Hein mit seiner ausgeprägten Anti-Haltung ganz der Alte geblieben ist. Leider nimmt diese Form von Punk mitunter etwas opahafte Züge an.
36. Brausepöter – Letzte Rettung
37. Cucamaras – Death of the Social
38. The Smile – You Will Never Work In Television Again
39. Jenny Hval – American Coffee
40. Dry Cleaning – Don‘t Press Me
Das schwierige zweite Album: Nachdem die Londoner Band mit ihrem gefeierten Debut New Long Leg die Latte hoch gehängt und ihre Live-Performance zur späten Stunde im Spiegelzelt des Haldern Pop Festivals mich persönlich einfach nur noch umgehauen hat, kam beim Hören des Nachfolgers zunächst Enttäuschung auf. Songstrukturen sind kaum noch erkennbar, Akkorde bleiben nicht auf Anhieb haften. Erwartungen an einen weiteren Hit wie Scratchcard Lanyard werden konsequent unterlaufen. Die Zweite-Album-Strategie. Doch auch wenn vieles nach improvisierten Sessions klingt, im Zentrum bleibt Florence Shaw und die verzerrt um ihren lakonischen Sprechgesang tanzenden Gitarrenfiguren. Das ist auch bei Don‘t Press Me zunächst nicht anders, bis – huch – eine gepfiffene Melodie so etwas wie nonchalante Leichtigkeit versprüht. Auch dies kein über das Album strahlender Über-Song. Aber mal ehrlich, wer bei diesem Cover nebst Artwork so viel Geschmack beweist wie Dry Cleaning, der hat sich auch mit okayen Songs einen Platz in der Bestenliste verdient. Selten waren Schamhaare so schön arrangiert wie hier. Lovely!
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41. Kat Frankie – Wrong
42. Arcade Fire – The Lighting II
43. Rolling Blackout Coastal Fever – Tidal River
44. SUIR – Vampires
45. black midi – Sugar/Tzu
Das ganze avantgardistische Spektrum mit Zutaten aus Prog-Rock, Speed- und Crooner-Jazz präsentieren black midi in ihrer hyperaktiven Single Sugar/Tzu – eingeläutet durch die markigen Worte eines Box-MCs: „Ladies and gentlemen, are you ready for the sporting event of the year? Let’s see some thunder!”. Mit diesem Intro wurde bereits das Publikum bei den Live-Shows in Kampfstimmung versetzt. Dann geht es gemächlich in die erste Runde: Geordie Greeps Stimme legt sich über verträumte Sopran-Saxophon-Klänge. Entspannung macht sich breit, die Deckung fällt. Rumms! Sun Sugars erste Gerade sitzt. Aus heiterem Himmel sprinten Gitarre, Bass und Bläser um die Wette. Morgan Simpson malträtiert sein Schlagzeug, wobei Greeps Gesang das Speed-Getöse mit lässigem Vibrato kontrastiert. Zwischendurch einmal kurz Luft geholt, dann drehen die Bläser durch, ein Schlagzeug-Fill jagt das nächste. Ein Stopp, ein Riff – und schon fliegen wieder die Fäuste. Kann hier bitte jemand mal das Handtuch werfen?
46. Bill Callahan – Coyotes
47. Benjamin Clementine – Residue
48. Lizzo – About Damn Time
49. Special Interest & Mykki Blanco – Midnight Legend
50. Patrick Wolf – Enter the Day
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