Das war 2023 – Rückblick der Autor:innen: Richard Kilian

Das war 2023 – Rückblick der Autor:innen: Richard Kilian

In diesem Jahr habe ich bewusst weniger an Alben gehört als sonst, sondern mich von den Neuveröffentlichungen bei SubmitHub mitnehmen und inspirieren lassen. Unabhängig davon gab es trotzdem ein paar Veröffentlichungen, die unbedingt erwähnenswert sind und die ich gerne und auch mal sehr oft gehört habe, wie mein Album des Jahres. 

Hier daher eine Zusammenstellung der Alben und EPs, die mir 2023 viel Spaß beim Hören bereitet haben. Es geht los … abwärts gezählt „die 5 besten Alben, die ich in diesem Jahr gehört habe“:

Top 5 – Alben, aus meinen Kritiken

Platz 5: Downpilot The Forecast

Der aus Seattle stammende US-Amerikaner Paul Hiraga überrascht sowohl Publikum als auch Kritiker regelmäßig mit qualitativ hochwertigen Songs, die sich inzwischen auf sieben Alben verteilen. Seit dem starken Debüt mit der ersten EP Thrive In A Short Season, dem das Album Leaving Not Arriving (2003), auf dem der Beinah-Hit True zu finden ist, folgte, gab es zwar auch musikalische Höhen und Tiefen aber im Grunde immer eine solide Basis aus hochwertigen Songwriting und bodenständigen Rock-Arrangements. 

Ursprünglich war Downpilot eine klassische 3-Mann-Band (Gitarre, Bass, Schlagzeug) aber inzwischen ist daraus – seit den letzten vier Alben ohnehin – ein echtes Soloprojekt geworden. Auf den Alben spielt Hiraga nahezu alle Instrumente selbst ein, nimmt die Tracks auf und mischt sie ab. Das aktuelle Album The Forecast ist, abgesehen von einigen Streichern, dezenten Backing Vocals befreundeter Musiker und den prägnanten Geigenpart von Melinda Rice ein künstlerischer Alleingang. 

Schon der akustisch beginnende Opener Black Eye, der das erste Highlight auf dem Album ist, und der anschließende Track Totems, der mit Indianischen Percussions und Violine-sowie Klavier-Einsätzen glänzt, machen es dem Hörer:Innen einfach, in das Album reinzukommen. 

Als nächstes Highlight des Albums folgt dann der Westcoast-Indie-Track My Favorite Neighborhood, der ein verschollener Track von Crosby, Stills & Nash sein könnte. Die ehemaligen Wegbegleiter Jeff Brown und Terry de Castro haben hier die traumhaften Backing-Vocals beigesteuert. Danach ist mit dem Track Red Desert eine Mischung aus Brit-Pop und Americana zu vernehmen, der neben Hiragas rauem Gesang von einer E-Gitarre und den Geigen-Einsätzen von Melinda Rice getragen wird. 

Bei der Klavierballade Strangers Hotel fühlt man sich durch die berührende Melancholie im Gesang positiv an Jeff Tweedys Wilco erinnert. Dieser Track ist mit Streichern, Klavier und seltsamen Keyboard-Klängen einer der sicher von den meisten Hörer:Innen übersehenen Höhepunkte des Albums. 

Die 70er-Jahre in Reinform erklingen mit dem Track Balancer, der original wie ein fehlender Song aus America´s erstem Album, passend zwischen A Horse with no name und I need you klingt. Einen so wunderbar erhabenen Song, gab es in letzter Zeit nur sehr selten. 

Der anschließende kurze Instrumental-Track Antfinger wirkt ebenso aus der Zeit gefallen wie der nächste Track Night Shade, der in kontemplativ-ruhiger Form dahingleitet und erst im Nachhinein seine ganze Wärme und Freude erkennen lässt. On the Way ist die zweite getragene Klavierballade und hält als positive Überraschung für die Hörer:Innen einigen sehr verspielte Keyboard-Parts mit Geigenbegleitung bereit, die man nicht erwartete hätte. 

Zum Finale des Albums wartet mit dem Titeltrack The Forecast ein weiterer Höhepunkt, der dem Album in seiner intimen Ehrlichkeit als Klavierstück eine klagende R.E.M.-Story erzählt, die sich dann aber als echte Downpilot-Ballade entpuppt, die in den letzten Tönen einen Hauch des Liveshow-Lieblings True in sich trägt. 

Anspieltipp: My Favorite Neighborhood

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Platz 4: Sufjan Stevens – Javelin

Sufjan Stevens‘ zehntem Soloalbum Javelin ist das erste Singer-Songweiter-Album seit Carrie & Lowell (2015) und noch mehr als das: Stevens greift Elemente seiner bisherigen musikalischen Laufbahn auf und verbindet diese miteinander, teils intim wie opulent, niederschmetternd wie erhebend.

Tatsächlich beginnen alle zehn Songs maximal reduziert. Sufjan Stevens begleitet sich mit Klavier oder Akustikgitarre, bevor die Arrangements dazu kommen und Melodien entstehen und vergehen. Dass er nahezu alles selbst eingespielt hat, überrascht kaum, schließlich personifizierte er schon in der Vergangenheit den Multiinstrumentalisten schlechthin. 

Die Songs sind wunderbare Beispiele für großes Songwriting und doch zum Teil grundlegend verschieden. Das klingt in vielen Tracks wunderbar vertraut nach seinem Album Michigan (A Running Start, Will anybody ever love me?, My red little Fox) oder im zweiten Teil des Openers Goodbye Evergreen und in Shit Talk nach dem gewollten Chaos von The age of Adz

Das schönste Stück des Albums ist sicherlich der Track So you are tired, dass sich in himmlischen Chören dahinbewegt und ein für das Album seltenes positives Grundgefühl hinterlässt. Zum Finale gibt sich Sufjan Stevens dem Cover des Neil Young-Songs There´s a world in einer wunderbaren akustischen Version hin. 

Ein Album, dass trotz der oft durchscheinenden dunklen Stimmungen einen entspannt positiven Nachgeschmack hinterlässt.   

 Anspieltipp: Will anybody ever love me?

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Platz 3: Christine and the QueensParanoïa, Angels, True Love

Das vierte Album des Künstlers der bisher Christine and the Queens, die in Nantes geborene Héloïse Letissier, war und sich im Zuge der Änderung der Geschlechtsidentität zum nichtbinären Singer-Songwriter und Tänzer, nun Chris nennt, ist ein in sich geschlossenes überwältigendes Konzeptwerk mit deutlich metaphysischem Überbau. Weltliche Thematiken, hier insbesondere der Verlust der Mutter von Chris und eine Trennung, verbinden sich in deren Verarbeitung mit immer wieder auftretenden Engelsbezügen. 

Das Gefühl des Aufgreifens und Verarbeitens von Paranoia hin zur true love, das Chris zusammen mit dem Produzenten Mike Dean hier über anderthalb Stunden in drei Akten, 20 Songs und 97 Minuten Spielzeit ausdehnt, ist ein krasser Gegensatz zu dem bisher bekannten teils hitorientieren, tanzbaren, mit Anleihen aus dem französischen Chanson versehenen Sound des Künstlers. 

Nach dem bereits im November 2022 veröffentlichten Album Redcar les adorables étoiles soll dieses Album der zweite Teil eines Triptychons sein. Nachdem Redcar les adorables étoiles den Prolog übernahm, sind wir nun mitten in der Erzählung angelangt – in einem ausufernden Ausloten von Gefühlen und Realitäten.

Die Songs des Albums im Einzelnen zu beschreiben, würde hier tatsächlich den Rahmen mehr als sprengen, so dass ich lediglich die besonderen Tracks, die fast alle in der ersten Hälfte des Albums zu finden sind, erwähnen will, die aus dem insgesamt guten Album, dass man am besten in einem Stück hören sollte, hervorstehen. 

Im ersten Akt sind dies nach dem Opener der zweite Song Tears can be so soft, ein kleines Trip-Hop-Perlchen, dass an Massive Attack erinnert und das folgende jazzige Marvin descending. Der sich dann anschließende Track A Day in the Water ist der frühe Höhepunkt des Albums und ohne Zweifel einer der besten Songs des Jahres 2023. 

An dieser Stelle ist es Zeit, die mitwirkende Musik-Ikone Madonna zu erwähnen, die in den Tracks Angels crying in my bed, I met an angel und Lick the lIght out Textpassagen vorträgt. Auch 070 Shake hat sich bei zwei Tracks (True Love und Let me touch you once) als Kollaborateur beteiligt.    

Aber weiter mit den besonderen Tracks, den im zweiten Akt fällt der Song Flowery Days positiv auf und bringt eine poppige radiotaugliche Note zurück, die bei dem Album teilweise in den Hintergrund rückt. Im dritten Akt ist es leider nur noch der Song To be honest, der hervorzuheben ist. 

Auch wenn die Masse an Musik und die große Anzahl an Song auf den ersten Blick abschrecken mag, dieses Album ist, auch wenn es den Hörer:Innen an der einen oder anderen Stelle einiges an musikalischer Flexibilität abverlangt, unbedingt im Gesamten hörenswert. Ein wunderbar erhebendes Erlebnis, dass lange nachwirkt. 

Anspieltipp: A Day in the Water live

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Platz 2: BeirutHadsel

Nachdem Beirut-Mastermind Zach Condon 2019 das von Kritikern nachhaltig gelobte Album Gallipoli veröffentlicht hatte, musste er – noch vor dem Pandemie-bedingten Absagen aller Konzerttourneen – aufgrund stimmlicher Probleme seine Tournee durch Europa und die USA absagen. 

Wer den Workaholic kennt, der weiß, dass Stillstand für Ihn Rückschritt bedeutet, so dass er direkt damit begann seinen (geistigen) Dachboden aufzuräumen und das Doppel-Album Artifacts (2022), dass die musikalische Entwicklung von Beirut nachzeichnet – von den ersten Versuchen des 14-jährigen Condon, die Musik, die er in seinem Kopf hörte, zum Leben zu erwecken, bis hin zu dem voll entwickelten Beirut als bandähnliches Kollektiv, das wir heute kennen – zu entwerfen. 

Danach brauchte er offenbar tatsächlich eine Erholungspause und fand dabei auch noch kreative Erlösung im hohen Norden Europas. In einer kleinen Hütte auf der norwegischen Insel Hadsel soll der Musiker einen Orgelliebhaber getroffen haben, der ihm Zugang zur örtlichen Hadselkirke verschaffte. Auf der Kirchenorgel legte Condon das Fundament für sein nächstes Album, das er – man glaubt es angesichts der klanglichen Opulenz kaum – allein schrieb und aufnahm. 

Im Mittelpunkt des Albums steht diese wunderbar pastorale Stimmung, die von der Kirchenorgel und dem – Beirut-typischen – Trompeteneinsätzen stammt. Schon der Opener und Titeltrack des Albums schwelgt dermaßen in der puren Schönheit warmer Trompeten- und Waldhorn-Sounds, dass es den Hörer:Innen Tränen der Freude in die Augen treiben muss. Die Tracklist von Hadsel spiegelt – wie fast immer bei den Alben von Zach Condon – die damaligen Lebensumstände des Musikers in Polarkreis-Nähe wider (Arctic Forest, Stokmarknes, Island Life, Spillhaugen). Tracks wie beispielhaft So Many Plans, The Tern oder Süddeutsches Ton-Bild-Studio sind meisterlich instrumentiert und arrangiert. Zu den Bläser- und Orgel-Klängen gesellen sich Synthesizer, Gitarre und Ukulele, Drums und Percussions. 

Die Songs von Hadsel repräsentieren modernen Indiepop als ambitioniertes Kopf-Kino und entstanden unter schwierigen Umständen. Sicher ein Grund, weshalb sie gerade deswegen besonders gut geworden sind. Ein Album wie aus einem Guss.

Anspieltipp: Hadsel

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Platz 1: Manchester OrchestraThe Valley Of Vision EP

Manchester Orchestra ist eine US-amerikanische Indie-Rock-Band aus Atlanta, Georgia und wurde im Jahr 2004 gegründet. Die Band besteht aktuell aus dem Band-Leader und überwiegenden Songwriter Andy Hull (Gesang, Gitarren) sowie Robert McDowell (Gitarren), Andy Prince (Bass) und Tim Very am Schlagzeug. Der Durchbruch gelang ihnen 2009 mit dem zweiten Album Mean Everything to Nothing. Einem größeren Publikum wurden sie 2016 durch die Musik zum Film Swiss Army Man bekannt. 

Mir war die Band leider bisher komplett entgangen, obwohl schon 6 Alben erschienen sind und das letzte Album The Million Masks of God (2021), das sich nach dem Krebstod des Vaters von Robert McDowell vorwiegend mit den Themen Trauer, Tod und Trauma beschäftigte, sogar in den deutschen Album-Charts platziert war.  

Umso mehr begeistert war ich von der im März erschienenen The Valley Of Vision EP, die sich inhaltlich fast gänzlich mit Dingen wie Selbstfindung und Wiedergeburt beschäftigt. 

Wenn man dem Pressetext glauben will, dann hat Andy Hull im Sommer 2021 ein Buch mit puritanischen Gebeten aus dem Jahr 1975 mit dem Titel The Valley Of Vision wiederentdeckte, dass er von seiner Mutter geschenkt bekam. Die Beschäftigung mit dem Buch führte zur musikalischen Umsetzung einiger Kernthemen und somit zu der gleichnamigen EP.

Die EP besteht aus nur sechs Liedern und dauert etwas mehr als 26 Minuten. Zu der EP gibt es ein begleitendes Video des modernen Filmmachers Isaac Deitz, der im 180-Grad-3D-Realität-Format daherkommt und während einer einjährigen Reise durch die US-amerikanische Natur gedreht wurde. Dabei bringt Deitz in seinen Bildern die großen, ambivalenten Themen des Lebens und Sterbens, von Veränderung und Entwicklung, Vergebung und dem Loslassen visuell zum Ausdruck. 

The Valley of Vision ist in Vergleich zu den vorherigen Alben ruhiger und im Frieden mit sich selbst. Es bedeutet eine innere Auflösung durch Beschränkung. Man hat an manchen Stellen der Tracks das Gefühl des Schwebens und der Dankbarkeit. 

Der Opener Capital Karma ist ein von tiefen einsamen Klavierklängen und Vocals sowie ambienter Elektronik getragenes ruhiges Aufbau-Stück, das direkt fesselt. Ein wunderbar erhabenes und tolles Musikerlebnis mit choralen Ende. The Way überzeugt mit trippigen Schlagzeugbeats, der mystischen Atmosphäre und einem hymnischen Refrain. Ein wahres Erlebnis, bei dem die große Geste auch mal tatsächlich angebracht ist. Der folgende Track Quietly baut eine subtile Spannung auf und verfängt sich dann im erstmaligen Zusammenspiel aller Instrumente. 

Es folgen die wunderbar ruhigen Tracks Letting Go und Lose You Again . Hier wird das Songwriting Hulls in den Vordergrund genommen und gezeigt, dass es mit sparsamen Akustikgitarren- und Klaviersounds nicht viel brauchen, um eine ergreifende Stimmung zu erzeugen. Zum Finale gibt es den Song Rear View, der mit Herzschlag-Beats sowie Ambient-Tunes und Vocals an Radioheads Daydreaming erinnert. Die anfängliche Ruhe des Songs findet am Ende dann jedoch mit krachigen Drums, durchdringendem Gesang und kreisendem Piano ein ziemlich lautes Ende.

Anspieltipp: The Way

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Von Veröffentlicht am: 01.01.2024Zuletzt bearbeitet: 01.01.20242180 WörterLesedauer 10,9 MinAnsichten: 483Kategorien: NewsSchlagwörter: , , 0 Kommentare on Das war 2023 – Rückblick der Autor:innen: Richard Kilian
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Über den Autor: Richard Kilian

"Das Leben ist zu kurz für schlechte Musik" Wer mit Stephen King, Charles Bukowski, Andrew Vachss und Elmore Leonard sowie Marillion, Cigarettes after Sex, Motorpsycho, The Jayhawks, Sufjan Stevens, Rush und God is an Astronaut etwas anzufangen weiß, der ist bei mir richtig.

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