BERICHT: Die Goldenen Zitronen, 03.04.2019 Conne Island Leipzig

BERICHT: Die Goldenen Zitronen, 03.04.2019 Conne Island Leipzig

Es gibt sie noch, diese Anlässe, die von Menschen einer Altersspanne zwischen ca. 15-60 Jahren besucht werden. Am frühen Mittwochabend ist im MdbK in Leipzig eine Vernissage von Yoko Ono, auf der man genau das beobachten kann. Ein paar Stunden später stehen dann Die Goldenen Zitronen auf der Bühne im Conne Island, und auch hier bietet sich ein ähnliches Bild.

Im Hamburger Dunstkreis, in dem die Goldis seit den 80er Jahren residieren, existiert seit den späten 90er Jahren das geflügelte Wort des „Berufsjugendlichen“. Es umschreibt die Schwierigkeit, Punk (im weitesten Sinne) zu spielen und trotzdem altern zu dürfen.

Dass Die Goldenen Zitronen auch nach 35 Jahren Bandgeschichte noch in der Lage sein würden, Feuer zu entfachen, daran hat es eigentlich nie Zweifel gegeben. Auch in den 2000er Jahren, als Weggenossen wie Blumfeld Sentimentalität und Natur-Metaphorik für sich entdeckten, blieben die Goldis einer fast schon schmerzhaften Kompromisslosigkeit treu und webten Stück für Stück, Album für Album an einem Sound, der im wahrsten Sinne des Wortes als unverkennbar gelten kann. Regelmäßig sind sie bis heute ein Paradebeispiel von Union bis AfD, wenn nach Beispielen tiefsitzender Deutschland-Verachtung, Patriotismus-Feindlichkeit und Nestbeschmutzung gesucht wird – und zurecht ist dies ein Grund dafür, ein Mal so etwas wie ein Fünkchen Stolz (im Falle der Goldenen Zitronen) oder aber Anerkennung (im Falle ihrer Hörer_innen) zu empfinden.

Ihr Set im Conne Island beginnt die Band mit ihrem Klassiker Das bisschen Totschlag aus dem Jahr 1994.

Ein Grund zur Freude, einerseits, und andererseits ist diese Freude nie ganz zu trennen von seinem Inhalt, der spätestens seit 2015 wieder an akuter Bedeutung gewonnen hat, wenngleich die Aktualität der Bedeutung ohnehin immer gegeben war. Die Entmenschlichung und Verrohung, die sich immer und zuerst in unreflektierter Alltagssprache äußert, ist ein Phänomen, dass die Zitronen immer wieder aufzudecken vermochten. 1994 war es die sogenannte „(Ausländer)-Flut“, doch so etwas durfte man 2015 dann doch nicht mehr sagen, deshalb wurde daraus die „(Flüchtlings-)Welle“: „Doch sie blieben tapfer, sie würden sich nicht beugen/ Vor welchem Mob auch immer/ Und übrigens auch nicht vor Missbräuchlern und Schmarotzern/ Der, wie sagt man, Flut eben“, heißt es daher in Das bisschen Totschlag.

Weiter geht es mit einigen Stücken der vergangenen Jahre, wie Der Investor oder Nützliche Katastrophen vom aktuellen Album More than a Feeling. Zwischen den Songs werden unter den sechs Musikern munter Instrumente gewechselt, was eine enorme Bandbreite des Sounds schafft. So gibt es mal zwei Synthesizer, drei Drummer oder einen Blockflötisten. Um nicht auf Biegen und Brechen zu versuchen, alle sechs Musiker bei jedem Song beschäftigen zu müssen, stehen bei einigen Stücken auch mal fünf Leute auf der Bühne. Die Art und Weise, mit der die Zitronen ihre Stücke performen, kann einem Mitte-Zwanzig-Jährigen zwischendrin glatt die Angst vor dem Altern nehmen. Sie zeigt einem: Obwohl der Blick in die Reihenhaussiedlung es manchmal suggeriert, ist nichts (oder nicht alles) vorbestimmt. Sentimentalität? Sogenannte Altersmilde? Diese Symptome einer grassierenden Utopielosigkeit überlassen die Zitronen den „anderen“.

Nachdem die Band mit Flimmern vom 2001er-Album Schafott zum Fahrstuhl ihr reguläres Set beendet, kommt sie für drei weitere Zugaben noch mal auf die Bühne.

Bevor sie ihren Klassiker 80 Millionen Hooligans zum Besten geben, muss untereinander noch kurz die korrekte Akkordfolge geklärt werden. Man habe dieses Stück schon einige Jahre nicht mehr gespielt, erklärt Ted Gaier derweil. Wir verlassen die Erde ist dann folgerichtig die letzte Zugabe, bei der Enno Palucca mit einem Blockflötensolo brillieren kann, danach ist Schluss, aber nicht ganz.

Beim nächtlichen Nachhauseweg durch das menschenleere Connewitz sind Die Goldenen Zitronen präsenter denn je. Sie singen, wenn auch nur im Kopf: „Bleib bei mir, ich bleib bei dir“.

Titelbild: Die Goldenen Zitronen | (c) Luca Glenzer

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Von Veröffentlicht am: 08.04.2019Zuletzt bearbeitet: 08.04.2019646 WörterLesedauer 3,2 MinAnsichten: 841Kategorien: EventsSchlagwörter: , , 0 Kommentare on BERICHT: Die Goldenen Zitronen, 03.04.2019 Conne Island Leipzig
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Über den Autor: Luca Glenzer

Musiker und Soziologe.

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