Das war 2019 – Rückblick der Autoren: Jens Broxtermann

Das war 2019 – Rückblick der Autoren: Jens Broxtermann

„Most of it is crap. In all forms of music. Find the little diamonds here and there in a bunch of shit. That’s how it happens. To me. And that’s how it’s always been. I never thought that there’s a golden era of any type of music. There are just as many crappy bands 30 or 40 years ago as are now.“

Buzz Osbourne (the Melvins)

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Im Folgenden somit einige musikalische Diamanten, die ich im Kackhaufen von 2019 gefunden habe.

Album des Jahres:

Lingua NadaDjinn (Kapitän Platte)

Mit dem Vorgänger Snuff (2018) hatten die Leipziger von Lingua Nada die Messlatte in puncto Ideenvielfalt und brutaler Genre-Kamikaze schon mächtig hoch gelegt. Auf Djinn haben sie ihren Diamanten weiter geschliffen und ihren Sound auf ein noch höheres Level gebracht. Djinn ist in jeglicher Hinsicht brilliant. Ein irre gutes Songwriting, faszinierende Vocals und die äußerst druckvolle, dynamische und glasklare Produktion macht dieses Album zu einem absoluten Highlight. Es herrscht weniger Chaos und Gewalt als auf Snuff und insgesamt ist es melodiöser und eingängiger geworden, jedoch immer noch mit zahlreichen Wendungen in den Songs, für die wir die Leipziger so lieben. Adam Lenox & Co begeben sich auf Djinn in den Orient und treffen auf Thundercat, The Beatles, Beach Boys, The Mars Volta. So ähnlich, oder doch ganz anders. Auf jeden Fall das Spektakel dieses Jahres!

Dicht gefolgt von:

black midiSchlagenheim (Rough Trade Records)

Der Vierer aus London galt schon als heißester Underground-Tipp, bevor auch nur irgendein Song von Ihnen veröffentlicht war. Erst im Zuge der berüchtigten NTS Radio Session erschien ihre erste Single bmbmbm. Auf Ihrer frenetischen Live-Show auf dem LeGuessWho? 2018 haben mich black midi mit ihrem beängstigenden Math-Noise direkt umgeblasen. Schlagenheim hält, was ihre Live-Session versprochen haben. Multidimensionaler, frischer Noise-Prog-Rock mit Referenzen von King Crimson bis Talking Heads. Ein vielversprechendes Highlight.

The Flying LuttenbachersShattered Dimensions (ugEXplode, God Records)
The Flying LuttenbachersImminent Death (ugEXplode, God Records)

Weasel Walter ist einer der wichtigsten Protagonisten der No Wave, Free Jazz, Noise- und Impro-Szene und arbeitete mit Größen wie Hal Russell, Anthony Braxton, Peter Evans oder auch Lydia Lunch. Mit seiner Formation The Flying Luttenbachers, die er 1991 in Chicago gründete, fusionierte er Hardcore Punk, Death Metal und Free Jazz in immer wieder unterschiedlichen Besetzungen. Nach zehnjähriger Pause reformierte Walter 2017 die Luttenbachers und veröffentlichte 2019 gleich zwei Alben, die zum Besten gehören, was das Genre und Weasel Walter & Co. hervorgebracht haben. Miles Davis meets Magma meets James Chance meets Free Jazz. Killer!

Swansleaving meaning. (Young God, Mute Records)

Schneller als erwartet ist Michael Gira mit einem neuen Swans-Album zurück, nachdem er die vorherige Formation 2017 auflöste. Auf leaving meaning. sind so ziemlich sämtliche Weggefährten Giras als Gastmusiker vertreten, so dass es schon fast als Swans‚ All-Stars-Album bezeichnet werden könnte. Vom Soundgewand her kommt leaving meaning. ruhiger daher. Weniger Orkan, dafür viel mehr Gesang (insbesondere von Anna und Maria von Hausswolff) und Ambiente. Trotzdem tut es wieder an genau den richtigen Stellen weh, wenn sich überlagernde Soundscapes bis an die Schmerzgrenze hypnotisch wiederholen. Brilliante 90+ Minuten voll neuer Swans-Songs, von denen einige, wie bspw. Sunfucker, The Nub oder auch The Hanging Man, wieder zu echten Klassikern werden. Man darf sich schon jetzt auf die anstehenden Live-Shows der neuen Swans-Inkarnation freuen.

Big|BraveA Gaze Amongst Them (Southern Lord)

Langförmiger Experimental-Metal aus Québec, Kanada, der sich immer wieder in unterschiedliche Richtungen mäandert. Wer sich mit diesem Trio noch nicht beschäftigt hat, sollte dieses schleunigst nachholen. Hört man das neue, sehr stimmungsvolle und intensive Machwerk, wird einem klar, warum niemand geringere als Sunn O))) die Kanadier mit auf Tour genommen haben. Der Sound von Big|Brave ist geradezu prädestiniert, um auf Drones einzustimmen. Auf Stücken wie Body Individual nimmt der atmosphärische Sound von Big|Brave auch schon mal Industrial-Züge an. 

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EremitCarrier Of Weight (Transcending Obscurity Records)

Eines der erstaunlichsten Debüt-Alben in Sachen brutalstmöglicher Doom/Sludge-Sounds kommt 2019 vom deutschen Trio Eremit. Carrier Of Weight ist eine Art Konzeptalbum, welches, laut Aussage der Band, die Geschichte des Eremiten auch auf den kommenden Veröffentlichungen weiter erzählen wird. Die Grundzüge dieser Geschichte wurden im Rahmen eines extra angefertigten Pamphlets erzählt, welches von der Band bezogen werden konnte. Das Coverartwork von Carrier Of Weight stammt von niemand geringerem als Mariusz Lewandowski, der auch schon für die Amerikaner von Bell Witch tätig war. Carrier Of Weight beinhaltet 3 Songs, von denen der längste mit einer Spielzeit von über 30 Minuten daher kommt und den Zuhörer mit seiner schweren Stimmung zermatert. Die massive Produktion der Tonmeisterei Oldenburg und insbesondere die angsteinflößenden Vocals von Sänger Moritz Fabian sorgen dafür, dass garantiert keine gute Laune aufkommt. Freunde von den bereits erwähnten Bell Witch oder auch von Primitive Man sollten hier dringend mal ein Ohr riskieren. Die nächsten VÖs von Eremit sind bereits in der Pipeline und sollten Eremits Ruf als Deutschlands härtestes Doom/Sludge-Outfit mit links untermauern. Bei Eremit wird geklotzt und nicht gekleckert.

Sumac/Keiji HainoEven for just the briefest moments/Keep charging this „Expiation“/Plug In to making it slightly better (Trost Records)

Vielleicht das schwerstverdauliche aber auch zukunftsweisende Experimental-Metal Album des Jahres. Mit American Doller Bill […] war ja bereits eine Kollaboration von Sumac und Keiji Haino erschienen, auf der dieser intensive Free-Form-Avantgarde-Metal betrieben wird. Hier wird improvisiert, zelebriert und ein neuer Soundkosmos kreiert. Die Sessions sind nochmal länger ausgefallen, als bei ihrer ersten Zusammenarbeit, was das Hörerlebnis nochmals verstärkt. Hat man das Album komplett durchlaufen, braucht man erstmal Stille, um alle Eindrücke zu verarbeiten. Was das angeht, steht Even for just the briefest moments […] für mich auf einer Stufe mit dem späten Free Jazz eines John Coltrane

Kurz dahinter:

Vanishing TwinThe Age of Immunology (Fire Records)

Großes Kino auf einem der spannendsten Alben aus 2019. Vanishing Twin bestehen aus Mitgliedern von u.a. Innerspace Orchestra, Broadcast und Man from Uranus und präsentieren auf The Age of Immunology einen Retro- Psychpop-60s-Sound, garniert mit kosmischer Elektronik und mit allerlei Verwandtschaft zu Jazz, Kraut und Filmmusik. Mitreißend, aufregend und sehr originell.

NoseholesAnt And End (ChuChu Records)

Leider mittlerweile aufgelöst, haben die Hamburger von Noseholes dieses Jahr mit Ant And End ein absolutes No Wave/Post-Punk Meisterwerk hingelegt. Wirklich sehr schade um diese erfrischend skurrile Band mit ihren minimalistischen Grooves und den einprägsamen Textphrasen von Sängerin Zoosea Cide mit absolutem Ohrwurmfaktor. 

TicsAgnostic Funk (Tomatenplatten)

Ähnlich wie bei Noseholes liegt auch bei Tics die Würze in der Kürze. Auf Agnostic Funk geben die Kölner 8 Stücke in 18 Minuten Spielzeit zum Besten. Tics zimmern ihren Sound aus Elementen von Hardcore, No Wave, Punk und Funk zusammen, der sich in einer Schnittmenge aus Minutemen, ESG, James Chance, The Pop Group, Radio 4, Gang of Four, Captain Beefheart oder auch Talking Heads bewegt. Richtig gut. Mehr davon.

NileVile Nilotic Rites (Nuclear Blast Records)

Nile haben auch nach dem Fortgang von Gitarrist und Sänger Dallas Toler-Wade nichts an Qualität eingebüßt und mit Vile Nilotic Rites wieder einen absoluten Kracher eingespielt. Das Album liegt für mich im Death-Metal-Genre noch weit vor dem ebenfalls sehr hochgelobten neuen Album von Blood Incantation. Der Sound geht meiner Ansicht nach wieder mehr in Richtung der ersten drei Alben und bietet wieder allerlei durchgedrehtes Tech-Death-Metal Songwriting und Growl-Madness. Nile goes back to the roots. Keiner spielt nach Nile! Und dazu sind sie auch noch eine der bestgelauntesten Live-Bands des Planeten. Sollten Nile mal in der Nähe sein, solltet man sie keinesfalls verpassen!

Full of HellWheeping Choir (Relapse Records)

Wenn es in den vergangenen Jahren ein Band gegeben hat, die musikalische Extreme immer weiter auf das Äußerste getrieben hat, dann ist das Full of Hell. Insbesondere die Kollaborationen mit Merzbow und the Body sind sonische Attacken die an die Grenze des Ertragbaren gehen. So auch das neue Machwerk Wheeping Choir. Extremste Musik auf höchstem Level. Für meinen Geschmack hier noch etwas ausgefeilter als auf Trumpeting Ecstasy. Auf Full of Hell ist jedenfalls Verlass!

CoilgunsWatchwinders (Hummus Records)

Die Schweizer DIY-Noiser legen mit Watchwinders ihr bisher stärkstes Werk vor, welches immer wieder den Weg durch meine Boxen findet. Sie selbst bezeichnen ihre Musik als „Loud music with guitars“, was ich sehr treffend finde. Auch die Tatsache, dass Coilguns ihre Alben live aufnehmen, verleiht dem Hardcore-Noise-Sound der Schweizer zusätzliche Authentizität. Auf dieser Aufnahmen brennen die Jungs jedenfalls ordentlich, die übrigens fast alle auch schon mal bei den der deutsche Post-Metal-Instanz The Ocean gezockt haben. 

ScornCafé Mor (Ohm Resistance)

Ganz besonders erfreut hat mich 2019 die Rückkehr von Mick Harris (ex- Napalm Death, Painkiller) mit einem neuen Scorn-Album. Das Album variiert von zerstörerischem Digi-Dub, über Illbient zu Industrial- lastigeren Songs und erreicht seinen Höhepunkt mit Talk Whiff, einer Kollaboration mit Jason Williamsson von Sleaford Mods. Eine gelungenes und sehr erfreuliches Comeback seit dem letzten Album Refuse, Start Fires (2010), das die Lautsprechermembranen gehörig durchmassiert.

Zonal Wrecked (Relapse Records)

Kevin Martin aka The Bug und Justin Broadrick verbindet eine lange Geschichte der Zusammenarbeit. In den 90ern spielten beide mit den Bands GOD und ICE, woraus ihr gemeinsames Projekt Techno Animal entstand. Beide verbindet eine Obsession für Noise, Bass, Drone und Dub. Techno Animals‚ Ansatz, Industrial und HipHop zu kombinieren, transformieren die beiden Protagonisten nun in ihr neues Projekt Zonal. Auf der ersten Hälfte von Wrecked werden Martin und Broadrick außerdem von Moor Mother unterstützt. Fett!

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Von Veröffentlicht am: 29.12.2019Zuletzt bearbeitet: 29.12.20191796 WörterLesedauer 9 MinAnsichten: 1425Kategorien: NewsSchlagwörter: , 0 Kommentare on Das war 2019 – Rückblick der Autoren: Jens Broxtermann
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Über den Autor: Jens Broxtermann

"Most of it is crap. In all forms of music. Find the little diamonds here and there in a bunch of shit. That’s how it happens. To me. And that’s how it’s always been. I never thought that there’s a golden era of any type of music. There are just as many crappy bands 30 or 40 years ago as are now." (Buzz Osbourne, (the) Melvins)

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