BERICHT: Le Guess Who? 2018 – Erlebe, was du noch nicht gehört hast!
Le Guess Who? Rate mal, wer (da spielt)? Unter diesem einladenden Titel findet jährlich in der bildschönen, niederländischen Stadt Utrecht eines der weltweit außergewöhnlichsten Musikfestivals statt.
Jeweils an einem Wochenende im November stattfindend, übernimmt das Le Guess Who? Festival von donnerstags bis sonntags das kulturelle Geschehen in der Innenstadt Utrechts und überzieht jährlich diverse Locations mit einem der erstaunlichsten und vielfältigsten Programme, die man auf dieser Welt bestaunen kann.
Ein Besuch des Le Guess Who? ist damit auch immer ein kleiner Stadtrundgang und ein Kennenlernen von Utrecht, da sich die Veranstaltungen des Festivals auf über 20 Orte verteilen, darunter Kirchen, Museen, Theater, Gallerien, Lagerhallen, Musikclubs und natürlich das große Musikzentrum Tivoli Vredenburg, welches schon für sich allein genommen ein Erlebnis wert ist.
Das Tivoli Vredenburg, quasi das Hauptquartier des Festivals, von dem aus alles seinen Ausgang nimmt, ist ein äußerst bewundernswertes, architektonisches Riesengebäude mit fünf aufeinander abgestimmten Konzertsälen, die jeweils für spezifische Musikgenres konzipiert wurden.
Durch das Gebäude mit seinen vielen Etagen führen jede Menge Rolltreppen, Treppen, Gänge und Plateaus, die Ebenen miteinander verbinden. Ein einzigartiges Gebäude mit einem alleinigen Fassungsvermögen von über 5000 Zuschauern, welches geradezu geschaffen ist für die musikalische Reise, zu der das Le Guess Who? Festival seine Besucher einlädt. Die Vielzahl an Konzerten, die alleine hier stattfinden, verlocken so manchen Erstbesucher des Festivals dazu, sich überwiegend in diesem Gebäude aufzuhalten, da man durch die Möglichkeit, schnell die Säle wechseln zu können, viele Konzerte besuchen kann.
Aber es ist bei weitem nicht nur das sensationelle Musikprogramm oder das Tivoli, sondern auch die Hülle und Fülle an Begleitevents, die den Besuch des Le Guess Who? jedes Jahr wieder zu einem unvergeßlichen Festival machen: Lesungen, Filmaufführungen, Interviews, Kunstausstellungen, Diskussionen, Basare, Märkte, das multikulturelle Stadtteilfest Lombok, oder das jeweils am Festivalsamstag stattfindende „Le Mini Who?“, bei dem in Geschäften, Restaurants, Bars entlang der alten Gracht eine Vielzahl von beachtenswerten und interessanten Underground-Bands spielen, runden die stadtweite Verherrlichung musikalischer und kultureller Vielfalt ab. Die Organisatoren des Le Guess Who? Festivals konzentrieren sich dabei vornehmlich auf Künstler, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, neue Grenzen innerhalb bestimmter Genres zu setzen, oder diese zu überschreiten, um bisher Unbekanntes hörbar zu machen. Darüber hinaus arbeitet das Festival seit vielen Jahren mit Kuratoren, die ihrerseits wiederum befreundete und neue Künstler einladen und damit das immense musikalische Spektrum des Le Guess Who? Festivals ausfüllen.
Nur hier kannst du am gleichen Tag Weltmusik, Jazz, Ambient, Noise-Rock, HipHop, Electronica, Experimental-Metal oder moderne Kompostion im Konzert erleben, nirgendwo sonst findet Folk, Avantgarde, Drone oder Psychedelia gleichberechtigt neben zeitgenössischer Rock-, Pop- und Indiekultur statt.
So verschieden die auf dem Festival repräsentierte Musik, so verschieden auch die auf das Festival geladenen Kuratoren. Bei der 2018er Ausgabe des Le Guess Who? waren dieses der amerikanisch-venezolanische Musiker Devendra Banhart, die afroamerikanische Experimentalkünstlerin, Dichterin und Aktivistin Moor Mother und der britische Jazzmusiker Shabaka Hutchings. Asia Argento, die zunächst auch als Kuratorin fungieren sollte, zog sich aus dieser Position dann aber aufgrund von schweren Vorwürfe gegen ihre Person, die kurz vor dem Festival öffentlich wurden, zurück. In den Jahren zuvor fanden sich u.a. Namen wie Suuns, Wilco, Julia Holter, Sunn O))), Shabazz Palaces, Jerusalem in my Heart, James Holden, Han Bennink oder Michael Gira von Swans auf der Liste der Kuratoren wieder.
Wieso man sich das Le Guess Who? jährlich in die To Do- Liste eintragen sollte, lässt sich meistens schon anhand der Highlights im Festivalprogramm festmachen.
Bei der letztjährigen 12. Ausgabe waren diese u.a. das Art Ensemble of Chicago, The Breeders, Neneh Cherry, Sons of Kemet, The Bug, Mudhoney, The Comet is Coming, The Heliocentrics oder Colin Stetson, um nur einige wenige zu nennen. Mit zunehmender Vervollständigung des Line-Ups dann und spätestens mit der Veröffentlichung des endgültigen Zeitplans stellt man jedoch schnell fest, dass es hier nicht nur um das geht, was man sich alles angucken könnte, sondern vielmehr auch darum, was man alles dafür verpassen wird, denn hinter jeder Tür lauert beim Le Guess Who? ein Spektakel.
Donnerstag, 8. November 2018
Die Qual der Wahl begann dann auch sogleich am Donnerstag nach Erhalt des Festivalarmbands im Tivoli Vredenburg und sollte sich durch die nächsten vier Tage ziehen. Allein der erste Tag war bereits mit diversen Höhepunkten gespickt, zwischen denen man sich irgendwie entscheiden musste. Zum einen zwei Auftritte des ONCEIM Orchestras (Orchestre de Nouvelles Créations, Expérimentations et Improvisations Musicales), die in der Utrechter Domkirche ein Stück mit Éliane Radigue, einer zeitgenössischen, französischen Komponistin und Wegbereiterin elektronischer Musik, und ein weiteres mit Stephen O‘ Malley von Sunn O))) zur Aufführung brachten. Zum anderen brachte der Saxofon-Experimentalist Colin Stetson die Janskirche zum beben und Lydia Lunchs Big Sexy Noise spielte zeitgleich mit dem Art Ensemble of Chicago.
Da auch beim Le Guess Who? die Kapazitäten der Auftrittsorte begrenzt sind, empfiehlt sich ein rechtzeitiges Ankommen um einen guten Zuschauerplatz zu bekommen. Deshalb entschied ich mich für einen Festivaleinstieg mit Drinks, der Zusammenarbeit von Cate Le Bon und White Fence’s Tim Presley. Im dicht gefüllten Pandora im Tivoli Vredenburg wurde ihr sperriger Post-Punk-Psychedelic-Avantgarde Sound enthusiastisch aufgenommen. Unbequeme, anstrengende Songstrukturen treffen auf Post-Punk der End 70er/Anfang 80er-Jahre und Lo-Fi-Experimente. „Contort yourself“ hieß es damals bei James Chance, was auch auf Drinks zutreffen könnte. Nach einem kurzen Abstecher zu Lonnie Holley, der im großen Saal zusammen mit dem fantastischen Posaune/Schlagzeug-Duo Nelson Patton u.a. Stücke aus seinem letzten Album MITH präsentierte, ging es erstmal in die Essenspause, denn der restliche Abend bot keine großen Zwischenräume mehr.
Als nächstes auf dem Programm stand das Art Ensemble of Chicago, welches seit nunmehr 50 Jahren unter diesem Namen besteht. Jüngst erschien anlässlich dieses Jubiläums eine umfangreiche CD Box dieser einflussreichen Avantgarde-Jazz Formation und ihren ausgelassenen und exzessiven Free-Jazz-Improvisationen. Saxofonist Roscoe Mitchell und Percussionist Don Moye, die beiden letzten Originalmitglieder des Ensembles, präsentierten mit ihrem Septett eine mehr als eindrucksvolle Vorführung ihrer „Great Black Music“.
Im festen Glauben daran, dass dieses Spektakel heute nicht mehr übertroffen werden würde, ging’s im Tivoli ein paar Rolltreppen höher ins Pandora, wo sich die Zuschauer schon dicht um Yonatan Gat & The Eastern Medicine Singers drängten, die sich auf einer kleinen Bühne inmitten des Publikums befanden. 5 Menschen indianischen Aussehens, die sich um eine riesige Trommel platzierten, und dahinter Yonatan Gat an der Gitarre, Christopher Pravdica (Swans) am Bass und Paul Quattrone (!!!, Thee Oh Sees) an der Standtom. Ich weiss nicht, mit welchem Fell die indianische Trommel bespannt war, die hypnotischen Beats jedoch, die von den 5 Indianern aus dieser hervorgeholt wurden, ließen das Pandora jedoch vor Resonanzwellen erbeben. Gepaart mit den pulsierenden Basslinien von Chris Pravdica erreichte dieser Wahnsinn schon mal Swans-Sphären. Eine exzellente Grundlage für das experimentelle Gitarrenspiel von Gat, der sich hier vollends austoben konnte. Ein weiterer Höhepunkt dieses ersten Abends, der verschmerzen ließ, hierfür nur noch die letzten Songs von Seefeel mitbekommen zu haben, die auf dem Le Guess Who? ihr Album Quique in voller Länge präsentierten.
Zurück im großen Saal heizte auch schon das südafrikanische Kollektif „Bantu Continua Uhuru Consciousness“ (BCUC) die begeisterte Menge ein. Angeführt vom charismatischen Sänger Jovi, ballerte das Kollektiv ihre unnachahmliche Mischung aus Funk, Soul & Rock’n Roll ins Publikum, angefeuert durch die hoch perkussiven Rhythmen, die traditionelle Einflüsse mit ‚black consciousness‘ – Texten verbinden. Eine hochmagnetische Performance, die ähnlich politische Vibrations versprühte, wie der Auftritt von Shabaka & the Ancestors im Jahr zuvor. Kein Wunder, denn das BCUC wurde natürlich von Shabaka Hutchings kuratiert.
Den krönenden Abschluss des Abends lieferten dann Black Midi aus London, die trotz kaum medialer Präsenz und ihres erst einjährigen Bestehens schon als der heißeste Newcomer im Londoner Underground gehandelt werden. 4 junge Musiker, die einen ziemlich furiosen, äußerst rhythmischen Math-Rock spielen, der von einem unglaublichem Drummer zusammengehalten wird und sich in extremen Noise Passagen à la alte Sonic Youth ergeht. Ein sensationeller Auftritt!
Freitag, 9. November 2018:
Nach dem vorangegangenen Abend im Tivoli hatte ich beschlossen den Freitag mit Konzerten in anderen schönen Locations zu verbringen und mich fußgängerisch mehr zu bewegen. Den Beginn machten „King Champion Sounds“ im Ekko, einem wunderschönen Club an einem Kanal in Utrecht. Wie auch bei vielen anderen Locations ist man von außen oft überrascht, was für Räume sich nach Betreten eines Gebäudes auftun. Ein schöner kleiner, gemütlicher Club mit hervorragendem Sound. King Champion Sound sind nicht zum ersten Mal auf dem Le Guess Who? und waren schon häufiger zu Gast. Die Gruppe um den ehemaligen The Ex Frontman G.W. Sok braut eine hochenergetische Mixtur aus Psychedelic, Post Punk, Dub, Free Jazz, Folk und Electronica. Die Band wurde gegründet aus den Überresten von The Bent Moustache, der Band des in Kenia geborenen Engländers Ajay Saggar und haben passend zu ihrer Festival Performance ihr neues Album „For a Lark“ herausgebracht. Der dichte Soundmix von King Champion Sounds hält sich auf durchweg hohem Niveau und nimmt den Hörer schnell gefangen, insbesondere durch die eindrucksvolle Präsenz von G.W. Sok, der mit seinen politisch aufgeladenen Texten die Blicke auf sich zieht.
Danach ging es zu den entferntesten Locations des Le Guess Who?, nämlich dem Areal um den renommierten Utrechter Club De Helling. Von der Innenstadt aus ist man zu Fuß eine gute halbe bis dreiviertel Stunde dorthin unterwegs. Glücklicherweise sind in den letzten Jahren in der Ecke noch weitere Locations hinzu gekommen, so dass man durchaus auch den ganzen Abend dort pendeln kann. Ich trudelte passend im LE:EN ein, um einen der grandiosesten Auftritte des ganzen Festival beiwohnen zu dürfen, denn es spielte niemand geringeres als Ian Svenonius mit seinem neuen Projekt Escape-Ism. Svenonius sollte des meisten durch The Make Up, Nation of Ulysses, Chain and The Gang oder Weird War bekannt sein. Eine schillernde Gestalt der US Underground Musik, der hier mit seinem Projekt Escape-Ism den Geist von Suicide beschwört und mit minimalistischem Garage-Soul und kargem No Wave fasziniert. Ausgestattet mit Drumbox und Fuzzgitarre liefert er mit seinem schreienden, klagenden und jauchzenden Gesang die extrovertierteste Performance des Abends. Nahezu jede Ansprache beendet er mit einem auffordernden „Lemme hear you say Yeah“ und macht seine Performance zu einem denkwürdigen Ereignis.
Beim Londoner Quartett Ill Considered fließen dann in der Pastoefabriek handgemachter Drum’n Bass und Sax-Eskapaden à la Coltrane und Shepp zusammen. Der Sound der Briten befindet sich im ständigen Fluss und ihr Zusammenspiel scheint frei und konzentriert zugleich. Der dichte Soundteppich aus Drums, Bass und Percussion gibt dem Saxofon viel Raum zur Entfaltung mit unberechenbaren Ausbrüchen. Auch Afrikanisches und Orientalisches findet starken Einfluß im Soundgewand von Ill Considered. Ein wuchtiges und teilweise auch dunkles, meditatives Sounderlebnis der vier Londoner. Wieder einmal präsentiert von Shabaka Hutchings.
Mit Schnellertollermeier aus Luzern in der Schweiz wurde kurzfristig noch eine weitere, spektakuläre Band auf das Le Guess Who? geholt. Längst sind die Schweizer, die neuerdings auf Cuneiform Records veröffentlichen, kein Geheimtipp mehr. Der Math-Rock-Sound des Trios bewegt sich irgendwo zwischen Improvisation, Ambient-Noise und ausgeklügelter Polymetrik. Das Ganze klingt sehr frei, laut, organisch und nicht selten mündet der Sound in brachiale Noise-Passagen, die nicht mehr auf den Einsatz von Gitarren, Bass und Drums schließen lassen. Stetig werden neue Sounds hinzugefügt, die sich übereinander lagern und sich zu wahrhaften Wall of Sounds auftürmen. Sehr abgefahren und kompromisslos.
Als nächstes stand die Musiker- und Produzentenlegende Martin Bisi aus New York auf dem Programm, der sein aktuelles Album BC35 im Frühjahr 2018 veröffentlichte. Das Album ist eine Jubiläumscompilation mit Musikern, die in der 35-jährigen Geschichte seines BC Studios mit ihm kollaborierten. Darunter viele, viele illustre Namen wie z.B. Sonic Youth, Swans, Cop Shoot Cop, JG Thirwell, Alice Donut, u.v.m.. In Trio Besetzung im De Helling bot Martin Bisi einen wunderschönen Eindruck seines Schaffens. Als jemand, der wie kaum ein anderer den New York Noise Underground mitgeprägt hat, kamen hier alle auf ihre Kosten, die Noise Rock zu ihren musikalischen Vorlieben zählen.
Den Freitagabend beendeten dann die Engländer von Pigs Pigs Pigs Pigs Pigs Pigs Pigs und drehten mit ihrer Mischung aus Psychedelic Rock, Heavy Metal und Sludge Rock die Regler nochmal ganz weit nach rechts. Ihre mächtigen, brunzenden Riffs ließen mich oft an die großartigen Monster Magnet denken, als diese noch gut waren, nur in viel härter. Insbesondere deren Sänger stand mit seinen akrobatischen Bühnen- Moves im Mittelpunkt und klingt aufgrund seiner Stimmfarbe Wyndorf nicht unähnlich. Selten so einen ausdrucksstarken Frontman gesehen, der sich wie besessen im Riff-Orkan seiner Band windet. Mir jedenfalls sind die Ohrstöpsel vor Lautstärke beinahe aus den Ohren geflogen. Grandioses Finale. Monotonie erzeugt Druck. Keiner spielt nach Pigs Pigs Pigs Pigs Pigs Pigs Pigs, würde ich mal sagen.
Samstag, 10. November 2018:
Wenn man schon nahezu Tür an Tür zu einem Veranstaltungsort residiert, dann sollte man seinen Festivaltag auch dort beginnen. Das Kytopia lag quasi direkt über meiner Unterkunft am wunderschönen Kanal von Utrecht. Früher, vor Eröffnung des TivoliVredenburg, befand sich hier das Headquarter des Le Guess Who?.
Den Anfang machte am heutigen Samstag King Ayisoba aus Ghana, der eine Solo-Performance auf der Kologo präsentierte, einer zweisaitigen Laute mit enger Verwandtschaft zum Banjo, das typischerweise von den Bauern im Norden Ghanas gespielt wurde. Inzwischen sind Kologo-Spieler in Ghana zu Popstars aufgestiegen und Ayisoba gilt als einer der großen Vorreiter. Ayisobas Stimme ist grob und kehlig, seine Darbietung hat etwas raues an sich und er verbindet in seiner Musik spirituelle Werte mit sozialen Themen aus Ghana.
Nach einer 45-minütigen Pause ging es weiter mit dem Orchestra of Spheres aus Neuseeland, ebenfalls wieder kuratiert von Shabaka Hutchings. Auf der Bühne erscheint ein bunt kostümiertes Quartett. 2 Frauen an den Synthesizern, ein Drummer und der Sänger an einem, wie es mir scheint, selbstgebasteltem E-Drum Set, dem er auch allerhand andere Klänge entlockt. Hin- und wieder wird auch zu arabischen Saiteninstrumenten gegriffen und mit orientalischem Percussion-Werkzeug herum gespielt. Die beiden Keyboarderinnen tragen seltsame Visoren vor den Augen, auch das Gesicht des Drummers ist von seiner Kopfbedeckung verhüllt. Die Truppe aus Wellington scheint also nicht von dieser Welt zu sein. Affinitäten in dieser Hinsicht zu Sun Ra sind somit nicht zu verkennen. Die Musik des Quartetts ist allerdings etwas anders geartet, und kann vielleicht am besten als Ethno-Oriental-Kraut-Funk bezeichnet werden. Ihr zumeist polyrhythmischer Meltingsound bezieht unterschiedlichste Einflüsse. Alles sehr psyched-out aber immer voll im Groove. Ein sehr unterhaltsamer Auftritt.
Vom Kytopia aus sind es ungefähr 15min. Fußweg zurück zum Tivoli. Genug Zeit also um passend für eins der großen Highlights einzutreffen: Sons of Kemet XL. Mit unglaublichen 4 Schlagzeugern im Rücken entfacht Hutchings am Sax und an der Klarinette gemeinsam mit Theon Cross an der Tuba ein Heidenspektakel. Nicht umsonst ist die Truppe mit ihrem 2018er Album „Your queen is a reptile“ auf dem legendären Impulse! – Label gelandet. Das dicht gedrängte Publikum im Ronda feiert den wahnwitzigen Stilmix aus Jazz, Rock, karibischen und afrikanischen Elementen dementsprechend ab und macht diesen Auftritt zu einem der Höhepunkte dieses Festivalwochenendes.
Die hochkarätigen Parallelveranstaltungen zogen mich dann aber doch 30 Minuten vor Ende der Sons of Kemet ins Hertz, dem klassischen Konzertsaal des Tivoli, um dem Auftritt der Flötistin und Komponistin Nicole Mitchell beizuwohnen, die überraschenderweise von Moor Mother mit afrofuturistischer ‚Black Consciousness‘ – Poetry unterstützt wurde. Die von Mitchell improvisierten Klangskulpturen nahmen die Zuschauer mit auf eine spannende Reise zwischen Noise, Ambient, Bleeps und Spoken Word Performance.
Der Auftritt der großartigen Neneh Cherry war somit schon nahezu vorbei, als ich im Großen Saal eintraf. Begleitet von einer fantastischen Band bot die Ausnahmekünstlerin einen wundervollen, mit Worldmusic angereicherten Trip- Hop Sound. Zum Finale gab’s dann auch eine faszinierende Version ihres 1989 Hits „Manchild“.
Was dann kam, wurde im Festivalprogramm nicht ohne Grund als ‚totale Zerstörung‘ angepriesen. Kevin Martin aka The Bug feat. Miss Red. Im komplett zugenebelten Ronda wurde von The Bugs Dub – Soundsystem die Post-Apokalypse heraufbeschworen. Für mich eine Live-Premiere, mal so etwas live zu erleben, hätte ich mir im Traum nicht ausgemalt, welch bestialische Lautstärken hier erreicht werden. Dub, Dubstep, Dancehall, Industrial Hip-Hop, Noise & Grime at it’s best! Danach brauchte nichts mehr kommen.
Sonntag, 11. November 2018:
Der abschließende Festivalsonntag verhieß nochmal ein Programm voller Höhepunkte. Die Entscheidung, dennoch den Tag im Tivoli zu verplanen, war u.a. auch der Tatsache geschuldet, dass ‚Schusters Rappen‘ doch in den letzten Tagen stark strapaziert worden sind und im Tivoli auf jeden Fall jeder Saal auch Sitzgelegenheiten bietet. Sicherlich hätte ich mir zu gerne auch den grandiosen Auftritt der Seattler Grunger von Mudhoney angetan, doch die Location lag auch etwas weiter außerhalb des Zentrums. Der letzte Abend begann mit Haley Fohr’s Circuit Des Yeux, die zusammen einem niederländischen Kammerensemble u.a. unveröffentlichtes Material aus den Sessions zu ihrem letzten Album „Reaching for Indigo“ präsentierte. Experimenteller Folk trifft auf experimentelle Avantgarde-Sounds und Drones. Von den Rängen im großen Saal des Tivolis ein ungewöhnliches Hörerlebnis. Mit The Scorpios gab’s danach arabische Rhythmen, Eastern Funk und eine Portion Psychedelia der in London beheimateten Sudanesen.
Ein weiterer, illustrer Künstler folgte im Anschluss: Kadri Gopalnath, ein 69 Jahre alter Saxofon- Meister aus Indien, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, Holzblasinstrumente in die südindische, karnatische Musik zu integrieren. Hierzu modifizierte Gopalnath sein Saxofon und erfand eigene Spieltechniken, um die meistens für Stimme geschriebenen Arrangements nachspielen zu können. Auf der Bühne im großen Saal erklärte und zelebrierte der Meister seine musikalische Kunst zusammen mit seinem karnatischem Ensemble. Musste man nicht verstehen aber unbedingt bestaunen.
Wieder ein Stockwerk höher im Ronda fanden sich dann frühzeitig die Zuschauer ein, um die Show der Londoner von The Heliocentrics nicht zu verpassen. Mit Leinwand und Videoshow im Hintergrund nahm das Londoner Kollektiv das Publikum mit auf eine atemberaubende musikalische Reise, denn diese Band ist fähig zu allem, besitzt ein ungeheures Spektrum und vereint eine Vielzahl an Genres. Unter der Leitung von Drummer und Produzent Malcolm Catto navigieren sich die Heliocentrics durch Jazz, Hip-Hop, Psych, Krautrock und Soundtrackpassagen, dass einem die Kinnlade runter fällt. Im Mittelpunkt die charismatische Sängerin Just B, deren Stimme mitunter an die grossartige Shirley Bassey erinnert. Zugunsten der tollen Videoshow agieren die Musiker auf der Bühne im geheimnisvollen Halbdunkel. Eine sagenhaft gute Show.
Danalogue the Conqueror, Betamax Killer und King Shabaka haben in den letzten Jahren weiter an Fahrt und Masse hinzugewonnen. Spielten sie vor zwei Jahren noch im Pandora Saal, landen die drei ihren Kometen aus Jazz, Afrobeat und Synth- Electronica heute im großen Saal und schlagen mächtig ein. Kometen sollen ja Überreste aus der Entstehung des Sonnensystems sein und die Musik des Londoner Trios kommt mindestens von genauso weit her. Die Affinitäten von The Comet is Coming zum mystischen Sun Ra sind unverkennbar. Musikalisch bringen sie den Kosmos allerdings auf die Tanzfläche zurück. Das Ganze hat mitunter schon ziemlich ungestüme Kraft, als würden Materie, Raum und Zeit entstehen. Während des gesamten Konzertes gibt’s natürlich gehöriges Lichtgewitter, ein Komet hat schließlich auch seinen leuchtenden Schweif. Einfach überwältigend!
Mit dem fantastischen Auftritt des 76- jährigen Soul- Sängers Swamp Dogg gehen dann vier schöne Festivaltage dem Ende entgegen. Swamp Dogg präsentiert mit einer großartigen Band im Rücken viele Stücke seines aktuellen Albums „Love, Loss and Auto-Tune“, das er u.a. mit Justin Vernon (Bon Iver) und Produzent Ryan Olsen (Poliça) aufgenommen hat. Swamp Dogg, der seit den 70ern unter diesem Pseudonym veröffentlicht, war schon immer ein Künstler, der gerne mit gängigen Konventionen gebrochen hat, und wollte mit seinem aktuellen Album seinen exzentrischen Soul anders klingen lassen. Es sollte nicht nach Swamp Dogg klingen, „This time, I wanted to shock the shit out of them“, so der Soul Veteran. Live gab’s dann alles von 50s R&B bis 70s Soul bis Great American Songbook. Swamp Dogg lieferte im eleganten, rosafarbenen Anzug eine höchst leidenschaftliche und mitreißende Performance und die letzten Festivalbesucher im prall gefüllten Ronda dankten es ihm mit frenetischem Beifall. Zum Dank ließ sich Swamp Dogg auf die Knie herab, und kroch beim Abschlußsong entlang des Bühnenrandes, um seinen Fans die Hände zu schütteln. Ein wahrlich schönes Finale!
Das Le Guess Who? kann schon lange nicht mehr auf ein reines Musikfestival reduziert werden. Vielmehr ist es durch die Vielzahl an dazugehörigen Events zu einer Kunst- und Kulturveranstaltung geworden, die insbesondere durch die stilistische Offenheit und die starke Willkommensatmosphäre verbindet.
Wie heisst es doch so schön in „Train Sequence“ vom 1958er Album „A Journey into Stereo Sound“:
This is a journey into sound. A journey which along the way will bring to you new colour, new dimension, new values and a new experience.
Zutreffender kann man das Le Guess Who? Festival wohl kaum beschreiben.
Titelbild: Yonatan Gat & The Eastern Medicine Singers | (c) alle Fotos via Le Guess Who? @ flickr.com
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