Testcard #26: Utopien

Testcard #26: Utopien

Was ist das Versprechen der Utopie noch wert in einer Zeit, in der selbst AfD-Politiker (in diesem Fall Hermann Behrendt) Bücher über Realutopien schreiben und sich darin unter Anderem auf Oscar Wilde und Ernst Bloch beziehen?

Trotz allem – oder gerade deswegen – eine ganze Menge. Zeugnisse dafür gäbe es zuhauf. Zuletzt flankierte die im Mai diesen Jahres erschienene Testcard-Ausgabe die (bedauerlicherweise meist rein akademisch geführte) öffentliche Diskussion über Möglichkeiten, die über das bestehende hinausweisen. Während es der Neoliberalismus lange Zeit schaffte, den Menschen tatsächlich den Glauben und die Hoffnung auf ein Leben jenseits von noch mehr Privatisierung, Leistungsdruck, sogenannter Eigenverantwortung und dem ewigen Woche-Wochenend-Rhythmus auszureden, schießen seit einigen Jahren die Utopie-Versuche wieder aus dem Boden wie Pilze aus dem warm-feuchten Waldboden. Dabei sagt die Anzahl der Utopien freilich noch nichts über deren Qualität aus. Denn tatsächlich ist eine gewisse Umdeutung der Begrifflichkeit zu beobachten. Was heute bisweilen als radikale Utopie gilt, hätte Marx vor 150 Jahren als lauen Versuch reformistischer Bestrebung abgekanzelt. Doch was kann, was darf heute noch gedacht und auch gehofft werden, jenseits von Kitaplatz-Garantie und CO2-Steuer?

Diese Frage wird in eben jener neuen Testcard-Ausgabe ausgelotet. Die thematische und theoretische Bandbreite ist dabei groß, einig aber sind sich die Autor_innen, dass es wieder größerer Gesellschaftsentwürfe bedarf, die über die Feinjustierung dieser oder jener Stellschraube hinausgehen. Etabliert hat sich im Umfeld der Testcard der Begriff der „Poplinken“. Links heißt, dem Einführungsessay „Utopische Gegenwart: Das Popversprechen“ von Frank Apunkt Schneider folgend, dass man „sich etwas anderes zumindest vorstellen kann und will, als das, was ist, immer schon so war und auch weiter genauso sein wird, nur eben jeden Tag eines kleines bisschen schlimmer“. Links zu sein ist demnach also per Definition mit der Fähigkeit zum utopischen Denken verwoben, während die sogenannte „Mitte“ ihr utopisches Erbe allenfalls noch in „rituellen Sonntagsreden“ rezitiere – allerdings stets so „taktvoll abstrakt“, dass am Ende nicht an den Grundfesten des Bestehenden gerüttelt werde.

Besonders interessant in der neuen Ausgabe ist natürlich die „Utopie-Diskographie“, die im Kapitel „Tomorrow Never Mind“ vorgestellt wird. Das Spektrum der vorgestellten Musikstücke ist dabei sehr breit, reicht von John Lennon über Knarf Rellöm, von Laibach über Billy Idol, von Queen über DJ Bobo bis hin zu Björk. All diese Künstler_innen haben mit verschiedenen Songs den Versuch gestartet, mithilfe der Popmusik ein Morgen jenseits des Heute zu entwerfen, deren emanzipatorischer Gehalt freilich aber stark divergiert. Dabei ist sowieso nicht immer leicht zu bestimmen, wo die Utopie aufhört und die Dystopie anfängt – Stichwort Autotune. Lis Schröder beschreibt in ihrem Text „Autotune und Angst“ die Gratwanderung zwischen beiden Polen, die in der Überwindung des Differenten, Schrägen, Dissonanten liegt. Stellt Autotune die „Befreiung vom Menschen [oder] die Befreiung hin zum Menschlichen“ dar?

Der Gegenpol zu Autotune lässt sich indes im „Noise“-Genre finden, das explizit die Dissonanz gewissermaßen gewaltvoll in den Vordergrund rückt. Gerald Fiebig geht daher in seiner Abhandlung „Nichts (als) Noise unter der Sonne?“ unter Anderem der Frage nach, warum der Begriff „Lärm“ oft als Abwertung verschiedener Musikstile dient (à la „Mach das aus! Das ist doch nichts als Lärm!“). Auch die elektronische Musik wird einem Utopie-Check unterzogen, der die Anfänge der futuristischen Lärmmusik und deren enges Verhältnis zum italienischen Faschismus beschreibt und am Ende zum Schluss kommt, dass technische Umsetzung alleine keine utopische Idee hervorbringen könne, da Technik allen, also auch Anti-Utopisten, zur Verfügung stehe. Daher komme es am Ende auf die konkrete Ausgestaltung von Ideen an, Technik könne dabei nur Beiwerk sein. Für die Leser_innen eines Online-Musikmagazins nicht ganz unerheblich dürften zuletzt auch die Testcard-üblichen Plattenbesprechungen am Ende des Buches sein, deren Auswahl sich nicht an Verkaufszahlen, sondern an künstlerischer Relevanz orientiert.

Die 28 Texte sind, wie man es kennt, vergleichsweise voraussetzungsvoll geschrieben. Ziel der Ausgabe ist es dabei zu keiner Zeit, selbst Utopien oder Manifeste zu verfassen, sondern – im Sinne der Selbstverpflichtung als „Buchreihe für Popgeschichte“ – bereits bestehende Utopien zu analysieren und auf ihren Anspruch hin im Geiste kritischer Gesellschaftstheorie zu diskutieren. Sympathischerweise werden die behandelten Themen oftmals nicht im Bereich des Offensichtlichen gefunden, sondern in den Nischen, den Kellern und Abgründen, die im deutschen Pop-Feuilleton oftmals mit sträflicher Ignoranz behandelt werden. Lässt man sich auf die Vielschichtigkeit und Komplexität der Texte ein, wird man mit reichlich Erkenntnisgewinn belohnt, der so manch rhetorisch aufgeblasen-inhaltsarme Theorieabhandlung der akademischen Geisteswissenschaften übersteigt.

Die Welt steht Kopf, soviel ist klar. Doch die Utopie-Ausgabe der Testcard weiß immerhin so einiges zu ordnen, anzuregen, auch zu verwerfen und neu zu erschaffen. Sie verspricht Linderung und solidarisiert sich zugleich mit dem Ziel, Linderung abzuschaffen. So ganz ohne Widerspruch geht es am Ende natürlich nicht.

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Von Veröffentlicht am: 12.09.2019Zuletzt bearbeitet: 12.09.2019806 WörterLesedauer 4 MinAnsichten: 979Kategorien: Buch, KritikenSchlagwörter: , 0 Kommentare on Testcard #26: Utopien
Von |Veröffentlicht am: 12.09.2019|Zuletzt bearbeitet: 12.09.2019|806 Wörter|Lesedauer 4 Min|Ansichten: 979|Kategorien: Buch, Kritiken|Schlagwörter: , |0 Kommentare on Testcard #26: Utopien|

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Über den Autor: Luca Glenzer

Musiker und Soziologe.

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