Ambientlabel taâlem mit Jannick Schou, Jérémie Mathes und Philippe Lamy

Ambientlabel taâlem mit Jannick Schou, Jérémie Mathes und Philippe Lamy

Was ist ein taâlem? Ein taâlem ist die kleinstmögliche Maßeinheit, um die Vielfältigkeit und Qualität experimentellen, dronigen Ambients zu beschreiben. Ein taâlem dauert um die 20 Minuten, ist 3″ groß und auf silbrigen, geschmackvoll bedruckten Scheiben gebrannt.

Seit 2001 veröffentlicht Jean-Marc Boucher aus Paris, der Kopf hinter taâlem, 3″ CD-R’s, auf denen er Sounds von bis dahin eher unbekannten Acts unter die Leute bringt. Bei taâlem gehts nur um Musik. Laut eigener Aussage ist die Zielgebung so simpel wie die Aufmachung der Scheiben: “exploring the different sides of ambient music”.taalem lgo

Dazu sind die Preise mehr als fair. Kein Release ist limitiert, Späteinsteiger haben immer die Möglichkeit alle mittlerweile 93 CDs nachzuordern. Ebenso bekommt man zum Tonträger noch eine lebenslange Garantie dazu. Bei einem Label mit ausschließlich CD-R’s im Programm ist das sicher eine nicht ganz unwichtige Angelegenheit.

Thematisch ist man tief in der experimentellen Ambientszene verwurzelt, wie das auch beim legendären Drone Records Label aus Bremen der Fall ist. Die Bandbreite geht von Gitarren-Drones, synthetischen Drones, über Dark Ambient, Ritual Ambient bis zu Microsounds und Processed Field Recordings, aber immer mit Anspruch mehr das Unterbewusste, das Gefühl zu erreichen, als irgendwelche akademisch hochwertigen Kompositionen zu verfassen und das alles jeweils bei gleichbleibend enorm hoher musikalischer Qualität. Letzteres zeigt sich auch an den bekannteren Namen wie Aidan Baker, Aube, Daniel Menche, Voice Of Eye, Bad Sector und Celer. www.taalem.com/news.htm

Die drei neuesten EPs sollen hier nun rezensiert werden. Neulinge sollten sich Zeit nehmen und nicht gleich entmutigt die Segel streichen, denn es lohnt sich genauer hinzuhören. Einmal in den fantastischen Soundwelten taâlems emotional gefangen, erschließen sich auch die sperrigsten Brocken irgendwann wie von selbst.

 

alm 93: Jannick Schou – Eldey

Der aus Dänemark stammende Schou, der auch schon als Cylon veröffentlicht hat, war mir schon von zwei früheren Releases bekannt. Seit dieser fantastischen Komposition bin ich aber erst Fan. Schou, der elektronische Musik an der königlichen Musikakademie in Aarhus studiert, gelingt es auf Eldey (unbewohnte Felseninsel vor der südwestisländischen Küste), mit einem vordergründig simplen Drone ein kompositorisches Glanzstück zu erschaffen.

Am Anfang wird ein dunkles, verhalltes Rauschen eingeblendet. Das klingt so, als ob man tief in einer Höhle versteckt, einem aufziehenden Unwetter lauscht, oder ist es doch das Meeresrauschen im Nordatlantik? Darüber werden stark bearbeitete Gitarrendrones (könnten aber auch Synthies sein) gelegt, jeder für sich in der Tonhöhe gleichbleibend, aber eben in unterschiedlichen Tonhöhen. Immer wieder, einer nach dem anderen, wird eingeblendet, wuchtet sich in die Gehörgänge und verlässt sie auch wieder, so als ob man alle Teilnehmer am späteren Spektakel erst einmal vorstellen möchte.

flalm_93

Die Sounds werden immer heftiger, es werden immer mehr Elemente übereinander gelegt. Dann blenden sie wieder etwas aus, nur um Anlauf zu nehmen und im nächsten Durchgang noch heftiger und mit mehr Intensität wieder einzusetzen. Es ist eine Art von Heranrauschen, wie man das vom Sound von an einem Sandstrand auslaufenden Wellen kennt. Sind das möglicherweise die auf Eldey wohnenden Basstölpel, die über dem Meer um die Insel kreisen, immer wieder anfliegen, kurz Rast machen und dann wieder losfliegen, um Jagd auf Beute im Meer zu machen?

Nach Dreiviertel des Songs gehts dann etwas ruhiger zu, als ob das draußen wütende Unwetter stärker wird und man ihm kurze Aufmerksamkeit schenken müsste. Aber die Pause ist nur kurz, die Layer werden wieder aufgebaut, diesmal etwas konstanter dafür umso brachialer und vereinigen sich mit dem Unwetter. Das Ganze türmt sich auf zu einem Soundgebirge von majestätischer Erhabenheit und Größe, als ob es uns sagen wollte, auch die entlegendste und lebensfeindlichste Ecke auf dem Planeten besitzt unvorstellbare Schönheit. Die dem Stück inne wohnende Dramatik zieht einem wirklich die Schuhe aus. Grandios!!!


www.taalem.bandcamp.com/album/eldey
www.jannickschou.bandcamp.com
www.soundcloud.com/jannickschou

 

alm 92: Jérémie Mathes – Oiarzun

Die anderen beiden Neuerscheinungen sind dann weniger dramatisch, dafür etwas feingliedriger und es gibt mehr Sounds zu entdecken. Außer einem Release bei Mystery Sea, einem Bruder taâlems im Geiste, und zwei weiteren auf anderen Kleinstlabeln findet sich sonst nichts weiter über Mathes. Nach Schous One-Tracker werden auf Oiarzun (Stadt im Baskenland) hier 2 Stücke benötigt, um die rund 20 Minuten zu füllen. Die Field Recordings dazu stammen aus einem verlassenen Bauernhaus und aus Calanques, das sind besonderes geformte fjordartige Buchten in der Gegend um Marseille.

Ähnlicher Beginn wie bei Eldey. Das erste Stück Higidura (Baskisch für Bewegung) beginnt mit halligen, dusteren Sounds. Könnte man so erstmal im Dark Ambient verorten. Dann Field Recordings, etwas rauscht, etwas knistert, etwas knarzt dezent. Dazu dann ein extrem tiefes Grummeln. Es setzt ein leiser, leicht changierender, hochfrequenterer Drone ein, dann verhallte Field Recordings, als ob einer in einem riesigen Kellergewölbe große Metalltore aufsperrt.

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Die Atmosphäre in einem verlassenen Haus wurde hier schön eingefangen. Eigentlich friedlich, aber doch irgendwie etwas unheimlich und mit einem Eigenleben ausgestattet, worauf wohl der Titel anspielt. Denn nichts ist statisch, auch in einem verlassenen Haus passieren Dinge, meist klein und kaum wahrnehmbar, aber sie passieren.

Im zweiten Stück Vortice stehen erst einmal Wassergeräusche im Vordergrund. An Land spülende Wellen sind zu hören, Wasser, was irgendwo runterläuft und welches, was irgendwo gegen klatscht. Dazu dann irgendwelche Geräusche die klingen wie übereinander rollende Steine oder wie Muscheln auf einem Kiesboden. Irgendwann setzt auch hier ein Drone ein, der sich ähnlich wie bei Schous Eldey enorm steigert. Wo bei Schou das Beiwerk zum Drone bedrohlich und der Drone selbst eher freundlich klingt, ist es hier eher andersrum. Das Wasser gibt dem Ganzen eine beruhigende Note, wogegen die Drones den schroffen Felsen in den Calanques entsprechen.

Insgesamt eine hochinteressante Mischung aus Field Recordings und Dark Ambient, die viele Vorzüge gegenüber den reinen Vertretern ihrer Genres hat. Nice done!


www.taalem.bandcamp.com/album/oiarzun
www.jeremiemathes.net

 

alm 91: Philippe Lamy – Entre Deux

Ebenso wie Mathes veröffentlichte Philippe Lamy, eigentlich ein Maler und Dozent für bildende Kunst an der Ecole d’architecture de Toulouse, bereits auf Mystery Sea. Was bei der Malerei die vielen Pinselstriche sind, die zusammen ein Gemälde ergeben, sind in seiner Musik die Field Recordings. Auf Entre Deux gelingt der Spagat zwischen Impressionismus und Surrealismus. Die vielen feinen Farbkleckse erzeugen zusammen Stimmungen und durch die für den Alltagsmenschen ungewohnte Zusammenstellung der einzelnen Elemente entsteht ein gewisser surrealer Sog.

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Die Musik zu beschreiben ist in diesem Fall deutlich schwieriger als bei den anderen beiden Protagonisten, so detailreich ist der Sound. Das Ganze aber ohne überladen oder gar hektisch zu wirken. Im Gegenteil, Entre Deux strahlt auf seinen beiden Songs eine enorme Ruhe aus, vergleichbar zB mit Keith Berry. Die Ruhe tritt ein, weil viele der verwendeten Microsounds immer wieder wiederholt werden. Wassersounds sind auch hier wieder vorhanden. Dazu dann weit im Hintergrund kleine, freundliche flächige Drones, die immer wieder überlagert werden von beinahe wie Glitches wirkenden Einsprengseln.

Als Bild müsste man sich vielleicht eine tiefblaue Fläche, übermalt von vielen winzig kleinen Elementen vorstellen, die dann aber zusammen wieder angedeutet irgendetwas anderes darstellen. Wie gesagt, mir fällts schwer das zu beschreiben. Vielleicht wäre für diese Kritik ein Kunstkritiker eine geeignetere Person? Lamy jedenfalls sieht wohl gewisse Parallelen zwischen seiner Malerei und seiner Musik und so wirkt die Musik auch tatsächlich irgendwie sehr bildhaft.

Zwei wunderbare Kompositionen aus vielen Microsounds, Field Recordings und schönen Flächen, in denen man bei jedem Hördurchgang neue Details erkennt. Vielleicht das am schwierigsten zugängige Werk der drei, aber auch das, womit man am längsten Spaß hat. Hervorragend!


www.taalem.bandcamp.com/album/entre-deux
www.soundcloud.com/philippe-lamy
www.philippelamy.tumblr.com

 

Alle drei EPs zusammen geben einen feinen Einblick in die Möglichkeiten von Ambient und die Bandbreite von taâlem. Zwar funktioniert jede für sich alleine, aber als Dreierpaket entfalten sie ihre Wirkung erst so richtig. Wer seinen Ohren und seiner Seele mal etwas Besonderes gönnen möchte, der ist hier richtig.

Gesamtbewertung: 3 taâlems

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Von Veröffentlicht am: 08.08.2013Zuletzt bearbeitet: 02.12.20181385 WörterLesedauer 7,1 MinAnsichten: 809Kategorien: ArtikelSchlagwörter: , , , , , , , , 1 Kommentar on Ambientlabel taâlem mit Jannick Schou, Jérémie Mathes und Philippe Lamy
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Über den Autor: Sibylle Bölling

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