Tocotronic – Wie wir leben wollen

Tocotronic – Wie wir leben wollen

Trotz allen Worten über das ruhiger werden, weichem Gesang zwischen Banjos und Männerchören (sogar einer Frauenstimme), bleiben Tocotronic alles in allem textlich und musikalisch immer noch herrlich unverdorben und beweisen ihren Widerspruch bekannt, beliebt und gleichzeitig sonderbar zu bleiben.

„Als ornamentaler Fluch“, „ als eiserne Ladys“, „als Hülle“, oder „frei“ – 99 Thesen. So kündigen Tocotronic ihre langersehnte Platte WIE WIR LEBEN WOLLEN auf ihrer Homepage an. Mit ihrem zehnten Studioalbum feiert die Hamburger Band um Dirk von Lowtzow, Jan Müller, Arne Zank und Rick Mc Phail ihr 20-jähriges Bestehen – anders, poppiger und natürlich ein Meisterwerk größter intellektueller Textbefriedigung.

Anders ist zunächst einmal die Produktion.
Die Platte wurde analog aufgenommen, mit einer sogenannten Telefunken-T9-Vier-Spur-Tonbandmaschine aus dem Jahre 1958. Nur noch fünf dieser Maschinen gibt es weltweit. Eine davon steht in den Candy-Bomber-Studios im Flughafengebäude Berlin Tempelhof. Das Ganze immer noch unter Moses Schneider, Tocotronics langjährigen Produzenten.

Klanglich entsteht dadurch ein düsterer Hall, der sich durch alle Titel zieht. Und so wird aus „Digital ist besser“, dem Namen ihres ersten Studioalbums, zum Jubiläum „Zurück zum Analogen“.

Nur selten auffällige Verzerrer und der Sound der Tonbandmaschine geben den 17 Tracks eine viel wärmere Gesamtstimmung. Lowtzows Stimme bekommt dadurch etwas Verklärendes und Verschwommenes. Sowieso war seine Stimme noch nie zu vor so ehrlich und weich.

Die Veränderung, die die Band seit 1993, einst in alten Garagenschuppen, gemacht hat, könnte nicht größer sein.
„Wie wir leben wollen“ ist das Werk einjähriger Auszeit aus der Öffentlichkeit, nach der Vollendung der sogenannten Berliner Album-Trilogie bestehend aus „Pure Vernunft darf niemals siegen“, „Kapitulation“, und „Schall und Wahn“. Letzteres hielt sich für das Genre unfassbare sieben Wochen auf Platz eins der deutschen Charts. Bekannt für viele einschlagende Slogans einer Generation, wie „ Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“ oder „Aber hier leben, nein danke“ und einer gewissen Frechheit, wurden sie mit KOOK und spätestens mit der Berliner Trilogie immer sphärischer, die Melodien zarter und die Texte lyrischer.

Was manche als Reimen um jeden Preis definieren würden, ist für andere geniale Dichtungskunst und Ironie.

Die erste Singleauskopplung „Auf dem Pfad der Dämmerung“ begegnet uns mit verzerrten Gitarrensounds, ein wenig blechern, und erinnert damit etwas an The Smiths und den Gitarrensound der 80er. Dazwischen hallende Männerstimmen.

Viele Textstellen des Albums lassen andeuten, dass die Band sich mit dem langsamen Altern befasst.
Mittlerweile sind die Mitglieder alle circa 40 Jahre alt. Generell scheinen sie Themen wie Angst, Vergänglichkeit und Altern zu beschäftigen.

Schon im Intro des Albums IM KELLER hört man Ironie und Einsicht heraus. „Hey, hey, ich bin jetzt alt / Hey, hey bald bin ich kalt“. Ein Höhepunkt dieser Thematik und auch des Albums ist der Titel VULGÄRE VERSE. „20 Jahre sind eine lange Zeit / Doch sollte man nicht kleinlich sein / Als lebender Leichnam glaube ich daran: / the show must go on“ Liebliche Gitarrenklänge geprägt durch den Klang der Tonbandmaschine, dazu Lutzows melancholische Stimme.

Und auch wenn nicht jeder Reim reibungslos an einem vorüberzieht, diese gewisse Reibung und Dissonanz ist doch irgendwo auch ein Attribut, was man an Tocotronic so liebt.

„Wie wir leben wollen“ ist kein Album, das beim ersten Mal im Ohr bleibt, es ist mehr wie ein guter alter Wein, bei dem man kurz innehält und genießt, und der dann im Abgang seine wahre Farbe und Stärke entfaltet.

Die Melodien sind nicht so eingängig, da sind keine neuen Slogans, die man durch die Gassen schreien kann.

Romantisch und dunkel, reifer wirkt es. Es ist als würde die Musik der Band mit den Trainingsjacken und den Cordhosen erwachsen werden, ja geradezu darin schwelgen.

Trotz allen Worten über das ruhiger werden, weichem Gesang zwischen Banjos und Männerchören (sogar einer Frauenstimme), bleiben Tocotronic alles in allem textlich und musikalisch immer noch herrlich unverdorben und beweisen ihren Widerspruch bekannt, beliebt und gleichzeitig sonderbar zu bleiben.

1. Im Keller
2. Auf dem Pfad der Dämmerung
3. Abschaffen
4. Ich will für Dich nüchtern bleiben
5. Chloroform
6. Neutrum
7. Vulgäre Verse
8. Warte auf mich auf dem Grund des Swimmingpools
9. Die Verbesserung der Erde
10. Exil
11. Die Revolte ist in mir
12. Warm und grau
13. Eine Theorie
14. Höllenfahrt am Nachmittag
15. Neue Zonen
16. Wie wir leben wollen
17. Unter dem Sand

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Von Veröffentlicht am: 23.01.2013Zuletzt bearbeitet: 01.02.2019723 WörterLesedauer 3,6 MinAnsichten: 836Kategorien: Alben, KritikenSchlagwörter: , , , , , , , , 2 Kommentare on Tocotronic – Wie wir leben wollen
Von |Veröffentlicht am: 23.01.2013|Zuletzt bearbeitet: 01.02.2019|723 Wörter|Lesedauer 3,6 Min|Ansichten: 836|Kategorien: Alben, Kritiken|Schlagwörter: , , , , , , , , |2 Kommentare on Tocotronic – Wie wir leben wollen|

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Über den Autor: Marc Michael Mays

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2 Comments

  1. Marc Michael Mays 24.01.2013 at 09:32 - Reply

    Tocotronic unterwegs!

    27.01.2013 Berlin, Lido
    28.01.2013 Hamburg, Thalia
    01.02.2013 Dortmund, FZW (VISIONS Party)
    06.02.2013 Wien, Burg
    06.03.2013, Bremen (D), Theater
    07.03.2013, Düsseldorf (D), Zakk
    08.03.2013, Heidelberg (D), Hallo O2
    09.03.2013, Zürich (CH), Rote Fabrik
    10.03.2013, Freiburg (D), Haus der Jugend
    12.03.2013, Stuttgart (D), LKA
    13.03.2013, Offenbach (D), Capitol
    14.03.2013, Münster (D), Jovel Music Hall
    15.03.2013, Hamburg (D), Große Freiheit 36
    03.04.2013, Hannover (D), Capitol
    04.04.2013, Köln (D), E-Werk
    05.04.2013, Würzburg (D), Posthalle
    06.04.2013, München (D), Tonhalle
    07.04.2013, Graz (AT), Orpheum
    09.04.2013, Wien (AT), Arena
    10.04.2013, Linz (AT), Posthof
    11.04.2013, Erlangen (D), E-Werk
    12.04.2013, Leipzig (D), Haus Auensee
    13.04.2013, Dresden (D), Schlachthof
    13.04.2013, Berlin (D), Columbiahalle

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