KRITIK: Nils Frahm – All Melody

KRITIK: Nils Frahm – All Melody

Dem Ausnahmekomponisten Nils Frahm gelingt es wie kaum einem seiner Zeitgenossen, dynamische Kurven, melodische Verwebungen, Musik so zu stricken, dass sie, obwohl instrumental (was leider all zu oft zu Coffeeshop-Hintergrund-Muzak verkommt), einen vollkommen in seinen Bann zieht.

Nie bleibt Nils Frahm stehen, nie lässt er zu, dass sich Melodien und Rhythmen zu oft wiederholen, ständig knackt und raschelt es irgendwo im Stereo-Panorama. Kopfhörer auf, Augen zu und ab geht die Reise in Nils Frahms Welt.

Stille. Kein Knall, kein großer bombastischer Einstieg. Knistern, Schritte, ein Chor setzt ein, ein Cello, ein Akkordeon, man hört es rascheln, knacken, klicken und weiß sofort: man ist in Nils Frahms Universum gelandet.

Nach dem Intro The Whole Universe Wants To Be Touched geht es bruchlos in Sunson über, das die schwebenden Streicher zügig mit einem pumpenden Beat unterbricht, der Fever Ray ein verschmitztes Lächeln unter ihre Maske gezaubert hätte. Und dann eine Panflöte. Echt? Das Fußgängerzonen-Instrument Nummer Eins auf einem Nils Frahm Album? Aber es passt. Und wie. Das schlichte Instrument wird so sehr zerhackstückt, dass es gerade so erkennbar bleibt und als rhythmisches Element ein ganz eigenes Lied erzeugt.

My Friend The Forest, vom Autor kurzzeitig fälschlich mit „Mein Freund, der Baum“ übersetzt und als Hippiehymne abgetan, lässt dann endlich das Klavier auf die Gehörgänge los. Wie man es von Frahm kennt, ist bei der Aufnahme akribisch auf das Einfangen der Spielmechanikgeräusche geachtet worden. Abgetaner Spruch aber: man hört das Instrument atmen und leben. Wirklich.

Human Range bleibt erst mal ähnlich verhalten, hat aber einen unverschämt versteckten Rhythmus unter all seinen Schichten, dem man sich schwer entziehen kann. Und die unerwartete Panflöten-Zerhackstückung findet hier ihre Fortsetzung.

Mit dem Titeltrack wird so langsam klar, wohin die Reise geht.

Wechsel zwischen stillen Klavierstücken und dicht gewobenen Mixturen aus Synthesizern, echten Instrumenten, Geräuschen und treibenden Rhythmen. All Melody und #2 bilden die Säulen, die Basis, auf der dieses (ja, Klischee) Gesamtkunstwerk steht. Zwei Mal fast 10 Minuten, die klanglich und kompositorisch alles an Melodie und Dynamik hervor zaubern, was irgendwie möglich scheint. Ohne beliebig, ohne zu verkopft, zu vertrackt zu werden. Frahm lässt die Tür zu seinem Erleben, seiner musikalischen Idee so offen wie selten. Hier darf sich verloren werden. Hier darf getanzt, geschwebt und innegehalten werden. Mit sich selbst. Mit ihm.

Momentum macht seinem Namen alle Ehre. Nach dem 20 Minuten Ritt voller Sternenstaub und dauerlaufenden Synthesizern, legt Frahm hier mit voller Wucht die Bremse ein. Die Melodiebögen werden größer, getragener, weniger drängend. Ganz behutsam gleitet das Stück über in Fundamental Values. Zum zweiten Mal kommt kurz und unerwartet eine klagende Trompete zu Wort.

Kaleidoscope klingt wie es heißt. Bunt glitzernd. Schillernd. Voller wandernder Klänge, Farben und Stimmungen. Nie ganz greifbar, immer in Bewegung. Und mit Harm Hymn schließt sich der Kreis. Das Akkordeon aus The Whole Universe Wants To Be Touched macht seine Aufwartung, zieht schwermütig seine Bögen, untermalt von fern schwebenden Flächen. Dann ist es vorbei. Und fängt wieder an. Natürlich ist das Album auf Repeat. Ende und Anfang von All Melody greifen perfekt ineinander.

Leider war das Konzert im Berliner Funkhaus innerhalb von wenigen Minuten ausverkauft. Und das danach. Und das danach. Und das danach. Alle vier. Schaut man auf seiner Webseite bei den Tourdaten, sieht man mit Erschrecken, das ALLE Konzerte in Deutschland 2018 ausverkauft sind. Und fast alle anderen international auch. Das Phänomen Nils Frahm hat ganz früh im Musikjahr 2018 ein ganz besonderes Stück Musik vorgelegt.

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Von Veröffentlicht am: 24.01.2018Zuletzt bearbeitet: 19.09.2022604 WörterLesedauer 3 MinAnsichten: 754Kategorien: Alben, KritikenSchlagwörter: 1 Kommentar on KRITIK: Nils Frahm – All Melody
Von |Veröffentlicht am: 24.01.2018|Zuletzt bearbeitet: 19.09.2022|604 Wörter|Lesedauer 3 Min|Ansichten: 754|Kategorien: Alben, Kritiken|Schlagwörter: |1 Kommentar on KRITIK: Nils Frahm – All Melody|

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Über den Autor: Julian Schmauch

Dozent für Musikproduktion an der Deutschen Pop und der EMS in Berlin. Autor bei BackstagePro, Bonedo und Reverb. Spielt bei Chaos Commute. Remixer, Songwriter und Sounddesigner.

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