Isolation Berlin – Vergifte dich

Isolation Berlin – Vergifte dich

Als 2016 die Zeit aus allen Wolken und dem deutschen Musikjournalismus der Hype-Geifer aus seinem Maul tropfte, waren Isolation Berlin DER Schlund, in den die schreibende Zunft ihre mühsam zurückgehaltenen Phrasen werfen durfte.

LP kaufen Vö: 23.02.2018 Staatsakt

Isolation Berlin, die „spannendste deutsche Rockband“, die voller „Gefühle im Überschwang“ sang, deren „Tagebuchpoesie“ den Zeitgeist so aufgriffen, wie sonst niemand; die Texterzunft brillierte. Einige Touren, Videos, Magazin-Cover und Lesereisen später ist nun als der für alle Künstler so schwierig zu meisternde Zweitling da und die Frage darf – ganz unkritisch – gestellt werden, ob denn der Hype noch gerechtfertigt ist.

Erst mal Kirche im Dorf: Isolation Berlin schreiben gute Songs mit völlig okayer Instrumentierung und gut durchdachten Arrangements. Aber das dann gleich zum spannendsten zu machen, was musikalisch hierzulande veröffentlicht wird, ist ein wenig drüber. Nicht der Band gegenüber.

Bei der Öffentlichkeitswahrnehmung von Isolation Berlin dreht sich scheinbar fast alles um Text und Person Tobias Bamborschke. Um Max Bauer (Gitarre), David Specht (Bass) und Simeon Cöster (Drums) aber ihren Anteil am Gesamtkunstwerk Isolation Berlin genauso Rechnung zu tragen, betrachten wir zu allererst nur die Musik hinter und um die Worte.

Es gibt wie auch schon im Vorgänger tendenziell zwei Arten von Songs: die brachialen, kreischenden Kratzbürsten und die Kneipenschunkler, die um 7 Uhr morgens schwankend an der Theke hängen. So geht „Vergifte Dich“ mit „Serotonin“ auch los. Im inneren Ohr hört man fast ein „An der Nooordseeküsteee“ auf das triolische Geschunkel trällern. Der Titeltrack kommt dann etwas zackiger daher und bringt einige der bekannten und geliebten Noise-Rock-Elemente mit. „Wenn ich eins hasse, dann ist das mein Leben“ ist musikalisch gesehen auf der ganzen Platte tatsächlich eine Ausnahmeerscheinung. Düster wandert das Lied um Bamborschkes Hass-Tiraden in fast schon BRMC-ähnlichen Sphären.

Die nächsten 5 Lieder bleibt es – beim ersten Durchhören – sehr still, sehr bedeckt. Alle bieten kleine Perlen, kleine unvorhersehbare Stellen, sind mal versunken wie in „Melchiors Traum“, mal fast glitzernd wie eine Selig-Ballade wie bei „Marie“, aber hier ist die Explosions-Maschine Isolation Berlin hier eher ein Explosiönchen.

„Die Leute“ und Vorab-Single „Kicks“ zertreten die angezogene Handbremse dann aber noch mal mit genug Wumms, um diejenigen, die nach der stellenweise etwas langatmigen Albummitte Befürchtungen hatten, das sei es jetzt gewesen, zu beruhigen. „Mir träumte“ ähnelt als 11. Und letzter Track musikalisch „In manchen Nächten“, ebenfalls 11. Track auf dem Vorgängeralbum, so sehr, dass man versucht sein könnte, ein Konzept dahinter zu vermuten. Insgesamt wurden keine Rock-Räder neuerfunden, glattpoliert oder aufgetuned. Solide Gitarrenmusik, ohne Ausrutscher.

Um Elvis Costello zu paraphrasieren: Für sein erstes Album hat man sein Leben lang Zeit, für sein zweites 6 Monate. Will sagen, einiges an Wut, an Weltscherz, vor allem an direktem Gefühl scheint Bamborschke im Feuerwerk des Erstlings verschossen zu haben. Das ist erst mal keine Kritik, sondern rührt eben aus der Erwartungshaltung, die „Und aus den Wolken tropft die Zeit“ nebst eskalierender Live-Shows geweckt hatte. Der Sänger und Dichter hat sich offensichtlich genug ausgeschrien und ausgekotzt und sinniert jetzt lieber mit dem Kinn am Thekenrand. Teilweise gelingt das so sperrig und verletzlich, dass man die rauen und geschrienen Passagen gar nicht vermisst. Teilweise allerdings wirken manche Zeilen der „Tagebuchpoesie“ (dt. Musikjournalist) wie aus denen eines 15-Jähhrigen „…und wenn ich noch was hasse, dann ist das der hass“. Ob das gewollte Plattitüde oder echtes Gefühl ist, diese Metaebene vermag Musik nicht zu transportieren.

Die Themen sind natürlich ähnlich geblieben, die inneren Dämonen und Depressionen, gebrochene Herzen, Einsamkeit, Exzess und Berliner Alltagstristesse. Und doch haben die Texte allesamt weniger Wucht, weniger Direktheit.

Vergifte dich ist ein absolut solides Album mit vielem Bekanntem und genug Neuem, dass es nicht einfach ein Debütalbum Plus wäre. Nach einem einigermaßen erfolgreichen Einstieg ist es sehr schwer für eine Band, dem Nachfolger die richtige Mischung aus Entwicklung und Zementierung zu geben. Auch Radiohead haben bis zum dritten Album gebraucht, um sich an den Bruch zu trauen. Isolation Berlin: traut euch auch!

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Von Veröffentlicht am: 02.03.2018Zuletzt bearbeitet: 02.12.2018681 WörterLesedauer 3,5 MinAnsichten: 871Kategorien: Alben, KritikenSchlagwörter: 0 Kommentare on Isolation Berlin – Vergifte dich
Von |Veröffentlicht am: 02.03.2018|Zuletzt bearbeitet: 02.12.2018|681 Wörter|Lesedauer 3,5 Min|Ansichten: 871|Kategorien: Alben, Kritiken|Schlagwörter: |0 Kommentare on Isolation Berlin – Vergifte dich|

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Über den Autor: Julian Schmauch

Dozent für Musikproduktion an der Deutschen Pop und der EMS in Berlin. Autor bei BackstagePro, Bonedo und Reverb. Spielt bei Chaos Commute. Remixer, Songwriter und Sounddesigner.

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