Archive – With us until you’re dead

Archive – With us until you’re dead

Die britischen Trip-Hop-Progger zelebrieren große Gesten, ohne sich in ihnen zu verlieren, frönen der Überdimensionalität, ohne an Größenwahn zu leiden, experimentieren, ohne anstrengend zu sein. Und beweisen, dass Songunterteilungen eigentlich sowieso keinen interessieren.

Nachdem „Archive“ zuletzt vor drei Jahren mit „Controlling Crowds“, dessen vier Teile auf zwei CDs verteilt werden mussten, der Öffentlichkeit neue Musik präsentierten, wurde es zwar alles andere als ruhig im selbst ernannten ‚Künstlerkollektiv’, trotzdem schienen die Jungs und das Mädel um Langzeitmitglieder Darius Keeler und Danny Griffiths eher auf Sparflamme zu laufen. Endlose Touren durch ganz Europa, mal mit, mal ohne Orchester, eine Live-DVD, gefolgt von einer CD mit unveröffentlichten Remixen und Demo-Aufnahmen. Das Gefühl von kreativer Ausgebranntheit machte sich breit, vor allem, da „Controlling Crowds“ sämtliche Stärken der Band kohärent und schlüssig vereinte.

Natürlich lagen „Archive“ die letzten paar Jahre nicht nur auf der faulen Tourhaut, wie sich jetzt zur Veröffentlichung ihres neuen Albums „With Us Until You’re Dead“ bewahrheitet. Ein kleines, aber feines Detail ist beispielsweise, dass das Album nicht mehr beim Plattenfirmariesen Warner erscheint, sondern beim von der Band selbst frisch gegründeten „Dangervisit Records“. Grund für den Wechsel dürfte die etwas krude Veröffentlichtungspolitik des alten Labels gewesen sein; so waren vergangene Aufnahmen in England, immerhin Heimatland der Musiker, lediglich als teure Importe verfügbar. Trotz jener nachvollziehbaren Unzufriedenheit bleibt es natürlich ein riskantes Unternehmen, direkt selbst ein Label aus dem Boden zu stampfen, und allein für diesen Schritt gebührt der Band große Anerkennung.

Und in der Tat klingt das Album kompromisslos und gelöster, als es beispielsweise noch „Lights“ tat, welches versuchte, mit beinahe poppigen Songstrukturen, Anschluss an den Mainstream zu erreichen. Bereits der Opener „Wiped Out“ verstört und verwundert mit verhalltem Gesang, dynamischen Streichereinsätzen und dem Verzicht auf akustische Rhythmusinstrumente eher, als dass es sich eingängig in die Gehörgänge frisst. Trotzdem überzeugt der Song, vor allem wegen der herausragenden Leistung von Sänger Pollard Berrier, der mit seinem Einsatz auf diesem Album wieder einmal beweist, dass er zu einem der ganz Großen seines Fachs gehört.

Nahtlos an das sphärische Intro schließt sich ein schleppender Rocker an, der abermals direkt in einen zum Heulen schönen, minimalistischen Popsong übergeht, dessen hektisches Getrommel zum Schluss auch gleichzeitig das Fundament für das energische „Conflict“ legt. Zwar wird recht schnell klar, dass „Archive“ den Gedanken des vierteiligen Konzeptwerks noch etwas weiter gedacht und sich an einem langen 55-Minuten-Song probiert haben, trotzdem staunt man über die Cleverness, mit der die Band ein solches Album konstruiert, ohne dass es auch nur an irgendeinem Punkt aufgesetzt oder gewollt klingt. Ob diese neu gewonnene Leichtigkeit auch mit dem Verlust des großen Labels zu tun hat, steht allerdings in den Sternen. Jedenfalls klingt „With Us Until You’re Dead“ nicht so, als hätten sich „Archive“ einschränken müssen.

Trotz des durchgehend gelungenen Aufbaus, überzeugt nicht jeder Song – oder besser, Teil des Gesamtwerks. So probiert sich Gitarrist und Sänger Dave Penney überdurchschnittlich oft an Kopfstimme, die leider nur bedingt gut zum Rest passt. Auch Maria Q, die zu zwei Stücken ihre Stimme beisteuert, bleibt etwas farblos – vor allem „Silent“ klingt, trotz gelungenem Sounddesign, eher wie ein unterdurchschnittlicher Ausschnitt aus einem schmalzigen Musical. Erwähnenswert auch, dass Rapper Rosko John, der auf „Controlling Crowds“ noch mit an Bord gewesen war, nicht auf dem aktuellen Werk zu hören ist. Wahrscheinlich hätte sein Sprachgesang auf diesem ‚persönlichen Album’, welches es laut Keeler geworden ist, eher deplaziert gewirkt.

Herausragend und absolut überwältigend ist jedoch Neuzugang Holly Martin, die bereits auf der ersten Single „Violently“ zu hören war. Die erst 21jährige fasziniert mit unglaublicher Klarheit und absolut genial eingesetzter Aggressivität und klingt ein wenig wie eine Kreuzung aus Kate Bush und Pink. Hut ab! Schade zwar, dass sie nur auf zwei Tracks zum Einsatz kommt, allerdings bin ich mir sicher, dass wir in Zukunft noch vieles von ihr hören werden. Und „Archive“ wären ja auch irgendwie bescheuert, ihr selbst entdecktes Wunderkind nicht weiter zum Einsatz zu bringen.

Nach 55 ununterbrochenen Minuten Musik und zwölf ‚Unterteilungen’ später ist man schließlich durch, belohnt durch einen nach jedem neuen Hördurchgang eintretenden „Aha-Effekt“. „Archive“ gelingt mit „With Us Until You’re Dead“ tatsächlich eine absolute Punktlandung, auf der kein einziger überflüssiger oder falsch gesetzter Ton zu hören ist. Und spätestens jetzt, wenn nicht sowieso schon, gehören „Archive“ zu den ganz großen Bands im Bereich der zeitgenössischen, alternativen Rockmusik. Sogar mit eigener Plattenfirma!

1. Wiped Out (6:20)
2. Interlace (4:42)
3. Stick Me In My Head (3:57)
4. Conflict (5:01)
5. Violently (6:14)
6. Calm Now (3:53)
7. Silent (5:39)
8. Twisting (4:01)
9. Things Going Down (1:51)
10. Hatchet (4:15)
11. Damage (6:46)
12. Rise (2:47)

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Von Veröffentlicht am: 06.09.2012Zuletzt bearbeitet: 01.02.2019800 WörterLesedauer 4 MinAnsichten: 841Kategorien: Alben, KritikenSchlagwörter: , , , 0 Kommentare on Archive – With us until you’re dead
Von |Veröffentlicht am: 06.09.2012|Zuletzt bearbeitet: 01.02.2019|800 Wörter|Lesedauer 4 Min|Ansichten: 841|Kategorien: Alben, Kritiken|Schlagwörter: , , , |0 Kommentare on Archive – With us until you’re dead|

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Über den Autor: Marc Michael Mays

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