BERICHT: Reflektor mit Max Richter & Yulia Mahr, Elbphilharmonie Hamburg, 08.-10.10.2021

BERICHT: Reflektor mit Max Richter & Yulia Mahr, Elbphilharmonie Hamburg, 08.-10.10.2021

Wie fasst man in Worte, was nicht in Worte zu fassen ist?

In der Konzertreihe Reflektor bekommen außergewöhnliche Künstler:innen die Möglichkeit, über ein Wochenende das Programm der Elbphilharmonie zu bestimmen. Natürlich spielen sie meist auch selbst und so durfte ich schon sehr besondere Konzerte u.a. von Nils Frahm oder Laurie Anderson erleben. Der Max Richter & Yulia MahrReflektor stand aufgrund der Pandemie unter sehr unsicheren Vorzeichen, wurde mehrfach verlegt und war dann letztlich unter 3G-Bedingungen realisierbar.

Mein letztes Konzert vor der Pandemie war im Februar 2020, Arvo Pärt, ebenfalls in der Elbphilharmonie. Seitdem habe ich nur ein einziges Mal ein Konzert erlebt, ein Streamingevent im September 2020, auf dem ich selber auf der Bühne stand. Entsprechend aufgeregt war ich, als der Reflektor angekündigt wurde – und etwas gierig, so dass ich im Endeffekt mit gleich drei Konzerten in drei Tagen dastand. Mein anfängliche Sorge und das schlechte Gewissen ob dieser Entwicklung sollte sich allerdings am Ende dieses Wochenendes völlig zerschlagen haben.

Eröffnet wurde bereits am Mittwoch um 23:30 Uhr mit einem Live-Stream von from Sleep, Max Richters 8,5-stündiges monumental Werk, das ich und meine Frau nach der Geburt unseres Sohnes tagelang gehört haben – mittlerweile habe ich, haben wir das Stück mindestens zehn Mal gehört und besonderer als mit einem kleinen Kind auf dem Arm wird es mit Sicherheit nicht. Daher begann das Wochenende für mich am Freitag mit Recomposed, Richters Neukomposition von Vivaldis Vier Jahreszeiten. Ein guter Einstieg, war es doch dieses Stück, mit dem ich Max Richter endgültig verfallen war. Aufgeführt wurde das Stück von Max Richter und dem Finish Baroque Orchestra, ein Ensemble, das auf historischen Instrumenten spielt. Schon abgefahren: Ein neoklassisches Stück, das eins der größten barocken Stücke neu interpretiert, aufgeführt mit barocken Instrumenten – und Keyboard. Das Ensemble wird von dem Violinisten Antti Tikkanen geleitet, der an einer Stelle etwas sehr schnell loslegte, so dass der Cembalist nicht ganz hinterherkam, bis der Einsatz des gesamten Ensembles die beiden wieder einfing. Davon abgesehen war es großartig. Wäre das mein einziges Konzert gewesen, ich hätte mich nicht beklagt. Passend zum begrenzen Raumkontingent wurde das Stück später am Abend noch einmal gespielt.

Am nächsten Tag, 16:30 Uhr, wurde dann Infra von 2010 aufgeführt, gefolgt von mehreren Kompositionen vom Julius Eastman.

Infra ist ein super düsteres Stück, das Richter in der Folge der Anschläge in London 2005 für ein Ballett komponierte. Wie das American Contemporary Music Ensemble das spielte – Gänsehaut überall. Das war schon sehr, sehr gut, zugleich aber auch versetzte es mich in eine etwas düstere Stimmung, wie vermutlich den ganzen Saal auch. Danach setzte sich Max Richter für den zweiten Teil ins Publikum, um Stücken von Julius Eastman zu folgen.

Das erste Stück wurde im fast dunklen Saal von Band abgespielt, eine Aufnahme von Eastmans Stimme selber. Fordernd, interessant – und offenbar durch die wiederkehrenden Pausen eine Steilvorlage für die Menschen, die zuvor ein Foto von Richter schiessen wollen, sich „leise“ zu unterhalten. Naja.

Die weiteren Stücke von Eastman wurden von Ensemble Resonanz und Teilen des American Contemporary Music Ensemble vom Dirigenten Kevin John Edusei geleitet – solche Freude, solches Engagement, solche Motivation der Musiker:innen ist man aus der Klassik nicht gewohnt. Musikalisch sicherlich nicht Neoklassik im Stil von Richter, aber sehr spannend, mal wieder musikalisch was zu erleben und zu hören, was ich so nicht erwartet und sicherlich nicht ohne Infra vorher gehört hätte. Aber diese Freude war der perfekte Gegenspieler zu dem düsteren Infra.

Ferner sollte Dirigent Edusei auch am nächsten Tag das Ensemble Resonanz mit Voices dirigieren – ein völlig anderes Stück, ganz andere Emotionen. Spannend! Ich war alleine deswegen schon etwas aufgeregt.

Bevor ich zu dem Konzert von Voices komme, ein paar Worte zu den Umständen: Klar, unter 3G kann der Saal nicht voll sein. Aber wer nach alle den Monaten ein Konzert mit einer Dauer von 55 Minuten für fast 100€ verkaufen will, darf sich nicht wundern, wenn der Saal nicht ausverkauft ist. Eine verdammte Schande, denn das was an diesem Sonntag in der Elbphilharmonie passierte, was derart großartig, dass es mir schwerfällt, Wort zu finden.

Kennt ihr diese Momente im Filmen, wo auf einmal alles dunkel wird und das Licht nur noch einen Fleck erhellt? Gefühlt war das ganze Stück ein solcher Moment. Ich bekomme schon fast Tränen in den Augen wenn ich nur daran denke. Ab der ersten Note war es einfach nur wunderschön.

Das erweiterte Ensemble Resonanz (Voices braucht für seinen Klang ja recht viele Kontrabässe) unter der Leitung von Edusei lieferte auf den Punkt ab, Sprecherin Birgit Minichayr las die UN Declaration of Human Rights anders als auf der Platte komplett auf Deutsch, dazu kamen weitere Stimmen in anderen Sprachen von Band, Max Richter am Moog und am Flügel, Elena Urioste – und der Gesang von Grace Davidson.

So ein Konzert habe ich noch nicht erlebt. Ein Sog von Emotionen ab dem ersten Knistern.

Während sich die Stimme von Grace Davidson auf Chorale von leichtem Summen bis zu ihrem wunderbaren vollen und klaren Gesang hochschraubte, das erweiterte Ensemble Resonanz die Harmonien lieferte, die Komposition sich emotional weiter und weiter hochschraubte, erstrahlte erst das Licht auf der Bühne pulsierend, die Emotion des Stückes aufgreifend, zart schien die Saalbeleuchtung anzugehen und dann doch wieder auszugehen, immer ein bisschen mehr mit jeder Welle von Emotionen, die Tränen stehen in den Augen, man schwebte mehr als dass man saß, das Licht wurde heller, immer heller, bis der Saal mit dem Höhepunkt des Stückes voll erleuchtet war – dann war es wieder dunkel. War das Licht jemals an? Hat Grace Davidson das alles alleine mit ihrer Stimme gemacht?

Wenn ich heute Voices höre, wenn ich jetzt darüber schreibe kommen alle diese Momente wieder. Gänsehaut überall. Das war mit Abstand das beste Konzert, das ich jemals erlebt habe. Bis ich das in Worte fassen konnte, mussten ganze zwei Wochen vergehen und noch immer habe ich das Gefühl es nicht gebührend formulieren zu können, würde am liebsten jeden Moment niederschreiben.

Was bleibt von diesem Reflektor?

Mit Recomposed begann einst meine bis heute anhaltende Begeisterung für die Musik von Max Richter, Infra entdeckte ich wenig später und Voices, während der Pandemie veröffentlicht, lief bei mir zuhause rauf und runter – ein absolut gelungenes Wochenende, das sich immer weiter steigerte und mit Voices letztlich den absoluten Höhepunkt aller Konzerte lieferte, die ich jemals erleben durfte. Ob ich jemals wieder so etwas erleben werde in einem Konzert?

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Von Veröffentlicht am: 22.10.2021Zuletzt bearbeitet: 22.10.20211136 WörterLesedauer 5,9 MinAnsichten: 870Kategorien: EventsSchlagwörter: 0 Kommentare on BERICHT: Reflektor mit Max Richter & Yulia Mahr, Elbphilharmonie Hamburg, 08.-10.10.2021
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Über den Autor: Arne Krause

Mein Fokus bei PiN liegt auf Neoklassik, Ambient, Progressive Rock, Post Rock und Electro. Und allem dazwischen (außer Indie).

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